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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der Zweckzusammenhang der letzten Prinzipien geht in Gott zurück.
selben ist. Der reine Geist, das Denken des Denkens, denkt nur
sich selber in unwandelbarem, seligem Leben und bewegt, indem
er als höchster Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke An-
gelegte selber zu vollbringen thätig ist: wie eine Seele also auf
andere geringere Seelen wirkt. So ist das letzte Wort der grie-
chischen Metaphysik das zwischen psychischen Wesenheiten statt-
findende Verhältniß als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es
im Götterstaate Homer's schon angeschaut worden war.



Siebentes Kapitel.
Die Metaphysik der Griechen und die gesellschaftlich-geschichtliche
Wirklichkeit.

Das Verhältniß der Intelligenz zu der gesellschaftlich-geschicht-
lichen Wirklichkeit hat sich uns ganz verschieden von dem gezeigt,
welches zwischen ihr und der Natur besteht. Nicht nur beein-
flussen die Interessen, die Kämpfe der Parteien, die sozialen Ge-
fühle und Leidenschaften hier die Theorie in einem viel höheren
Grade. Nicht nur ist die aktuelle Wirkung der Theorie hier
von ihrem Verhältniß zu diesen Interessen und Gemüthsbe-
wegungen innerhalb der Gesellschaft bestimmt. Auch wenn man
den Zusammenhang, welchen die Entwicklung der Geisteswissen-
schaften bildet, betrachtet, sofern er nicht durch das Mittel der
Interessen und Leidenschaften der Gesellschaft, in welchem er
stattfindet, bedingt ist, zeigt derselbe ein anderes Verhältniß zu
seinem Gegenstande, als es innerhalb der wissenschaftlichen Erkennt-
niß der Natur obwaltet.

Dies ist in dem ersten Buche erörtert worden. Die Geschichte
der Geisteswissenschaften bildet in Folge dieses Grundverhältnisses
ein relativ selbständiges Ganze, das in Koordination mit dem Fort-

Der Zweckzuſammenhang der letzten Prinzipien geht in Gott zurück.
ſelben iſt. Der reine Geiſt, das Denken des Denkens, denkt nur
ſich ſelber in unwandelbarem, ſeligem Leben und bewegt, indem
er als höchſter Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke An-
gelegte ſelber zu vollbringen thätig iſt: wie eine Seele alſo auf
andere geringere Seelen wirkt. So iſt das letzte Wort der grie-
chiſchen Metaphyſik das zwiſchen pſychiſchen Weſenheiten ſtatt-
findende Verhältniß als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es
im Götterſtaate Homer’s ſchon angeſchaut worden war.



Siebentes Kapitel.
Die Metaphyſik der Griechen und die geſellſchaftlich-geſchichtliche
Wirklichkeit.

Das Verhältniß der Intelligenz zu der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Wirklichkeit hat ſich uns ganz verſchieden von dem gezeigt,
welches zwiſchen ihr und der Natur beſteht. Nicht nur beein-
fluſſen die Intereſſen, die Kämpfe der Parteien, die ſozialen Ge-
fühle und Leidenſchaften hier die Theorie in einem viel höheren
Grade. Nicht nur iſt die aktuelle Wirkung der Theorie hier
von ihrem Verhältniß zu dieſen Intereſſen und Gemüthsbe-
wegungen innerhalb der Geſellſchaft beſtimmt. Auch wenn man
den Zuſammenhang, welchen die Entwicklung der Geiſteswiſſen-
ſchaften bildet, betrachtet, ſofern er nicht durch das Mittel der
Intereſſen und Leidenſchaften der Geſellſchaft, in welchem er
ſtattfindet, bedingt iſt, zeigt derſelbe ein anderes Verhältniß zu
ſeinem Gegenſtande, als es innerhalb der wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß der Natur obwaltet.

Dies iſt in dem erſten Buche erörtert worden. Die Geſchichte
der Geiſteswiſſenſchaften bildet in Folge dieſes Grundverhältniſſes
ein relativ ſelbſtändiges Ganze, das in Koordination mit dem Fort-

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[271/0294] Der Zweckzuſammenhang der letzten Prinzipien geht in Gott zurück. ſelben iſt. Der reine Geiſt, das Denken des Denkens, denkt nur ſich ſelber in unwandelbarem, ſeligem Leben und bewegt, indem er als höchſter Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke An- gelegte ſelber zu vollbringen thätig iſt: wie eine Seele alſo auf andere geringere Seelen wirkt. So iſt das letzte Wort der grie- chiſchen Metaphyſik das zwiſchen pſychiſchen Weſenheiten ſtatt- findende Verhältniß als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es im Götterſtaate Homer’s ſchon angeſchaut worden war. Siebentes Kapitel. Die Metaphyſik der Griechen und die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit. Das Verhältniß der Intelligenz zu der geſellſchaftlich-geſchicht- lichen Wirklichkeit hat ſich uns ganz verſchieden von dem gezeigt, welches zwiſchen ihr und der Natur beſteht. Nicht nur beein- fluſſen die Intereſſen, die Kämpfe der Parteien, die ſozialen Ge- fühle und Leidenſchaften hier die Theorie in einem viel höheren Grade. Nicht nur iſt die aktuelle Wirkung der Theorie hier von ihrem Verhältniß zu dieſen Intereſſen und Gemüthsbe- wegungen innerhalb der Geſellſchaft beſtimmt. Auch wenn man den Zuſammenhang, welchen die Entwicklung der Geiſteswiſſen- ſchaften bildet, betrachtet, ſofern er nicht durch das Mittel der Intereſſen und Leidenſchaften der Geſellſchaft, in welchem er ſtattfindet, bedingt iſt, zeigt derſelbe ein anderes Verhältniß zu ſeinem Gegenſtande, als es innerhalb der wiſſenſchaftlichen Erkennt- niß der Natur obwaltet. Dies iſt in dem erſten Buche erörtert worden. Die Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften bildet in Folge dieſes Grundverhältniſſes ein relativ ſelbſtändiges Ganze, das in Koordination mit dem Fort-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/294>, abgerufen am 24.04.2024.