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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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und der Beschäftigung mit den körperlichen Objekten sich widmeten,
wogegen die Araber und Juden sich den geistigen Dingen und der
inneren Eigenthümlichkeit der Objekte zuwenden 1). Und der
Kusari bemerkt dem entsprechend, daß die Griechen das, was
nicht von der sichtbaren Welt aus gefunden werden kann, ver-
werfen, wogegen die Propheten in dem, "was sie mit dem gei-
stigen Auge gesehen haben", den Ausgangspunkt eines sicheren
Wissens besaßen und nichtgriechische Philosophen diese inneren
Anschauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben 2).
Gleichviel wie es sich mit der ursprünglichen oder der stätigen
Richtung dieser verschiedenen Völker verhalte, solche Stellen be-
zeichnen richtig den Gegensatz zwischen der griechischen Wissenschaft
vom Kosmos und der herrschenden Richtung einer theologischen
Metaphysik bei den Arabern und Juden, wie sie bis zum Auf-
treten der naturwissenschaftlichen Forschung und dann der aristote-
lischen Metaphysik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber
das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch
klarer ist die Einseitigkeit der kosmischen Wissenschaft der Griechen
im christlichen Abendlande allmälig erkannt worden.

So hatte zunächst innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums
die Theologie (gewissermaßen eine Metaphysik der religiösen Er-
fahrung) das vorherrschende Interesse der Araber, Juden und
abendländischen Völker in Anspruch genommen. Wol war sie
vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewiesen,
und die Mutazila so gut als Augustinus oder Scotus Erigena
bedienten sich dieser in einem weiten Umfang; auch wurde diese
theologische Vorstellungswelt disciplinirt durch die antike Logik und
Kategorienlehre. Jedoch gestaltete sich der ganze Gedankenkreis
während dieses Zeitraums um den Mittelpunkt der religiösen
Erfahrungen und Vorstellungen; dieses centrale Interesse zog die
Bruchstücke griechischen Wissens an sich und ordnete dieselben sich
unter. Eine Aenderung in dem intellektuellen Leben des Mittel-

1) Schahrastani I S. 3.
2) Jehuda Halevi, Kusari S. 323 f.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und der Beſchäftigung mit den körperlichen Objekten ſich widmeten,
wogegen die Araber und Juden ſich den geiſtigen Dingen und der
inneren Eigenthümlichkeit der Objekte zuwenden 1). Und der
Kuſari bemerkt dem entſprechend, daß die Griechen das, was
nicht von der ſichtbaren Welt aus gefunden werden kann, ver-
werfen, wogegen die Propheten in dem, „was ſie mit dem gei-
ſtigen Auge geſehen haben“, den Ausgangspunkt eines ſicheren
Wiſſens beſaßen und nichtgriechiſche Philoſophen dieſe inneren
Anſchauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben 2).
Gleichviel wie es ſich mit der urſprünglichen oder der ſtätigen
Richtung dieſer verſchiedenen Völker verhalte, ſolche Stellen be-
zeichnen richtig den Gegenſatz zwiſchen der griechiſchen Wiſſenſchaft
vom Kosmos und der herrſchenden Richtung einer theologiſchen
Metaphyſik bei den Arabern und Juden, wie ſie bis zum Auf-
treten der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung und dann der ariſtote-
liſchen Metaphyſik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber
das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch
klarer iſt die Einſeitigkeit der kosmiſchen Wiſſenſchaft der Griechen
im chriſtlichen Abendlande allmälig erkannt worden.

So hatte zunächſt innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums
die Theologie (gewiſſermaßen eine Metaphyſik der religiöſen Er-
fahrung) das vorherrſchende Intereſſe der Araber, Juden und
abendländiſchen Völker in Anſpruch genommen. Wol war ſie
vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewieſen,
und die Mutazila ſo gut als Auguſtinus oder Scotus Erigena
bedienten ſich dieſer in einem weiten Umfang; auch wurde dieſe
theologiſche Vorſtellungswelt disciplinirt durch die antike Logik und
Kategorienlehre. Jedoch geſtaltete ſich der ganze Gedankenkreis
während dieſes Zeitraums um den Mittelpunkt der religiöſen
Erfahrungen und Vorſtellungen; dieſes centrale Intereſſe zog die
Bruchſtücke griechiſchen Wiſſens an ſich und ordnete dieſelben ſich
unter. Eine Aenderung in dem intellektuellen Leben des Mittel-

1) Schahraſtani I S. 3.
2) Jehuda Halevi, Kuſari S. 323 f.
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[370/0393] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. und der Beſchäftigung mit den körperlichen Objekten ſich widmeten, wogegen die Araber und Juden ſich den geiſtigen Dingen und der inneren Eigenthümlichkeit der Objekte zuwenden 1). Und der Kuſari bemerkt dem entſprechend, daß die Griechen das, was nicht von der ſichtbaren Welt aus gefunden werden kann, ver- werfen, wogegen die Propheten in dem, „was ſie mit dem gei- ſtigen Auge geſehen haben“, den Ausgangspunkt eines ſicheren Wiſſens beſaßen und nichtgriechiſche Philoſophen dieſe inneren Anſchauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben 2). Gleichviel wie es ſich mit der urſprünglichen oder der ſtätigen Richtung dieſer verſchiedenen Völker verhalte, ſolche Stellen be- zeichnen richtig den Gegenſatz zwiſchen der griechiſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos und der herrſchenden Richtung einer theologiſchen Metaphyſik bei den Arabern und Juden, wie ſie bis zum Auf- treten der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung und dann der ariſtote- liſchen Metaphyſik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch klarer iſt die Einſeitigkeit der kosmiſchen Wiſſenſchaft der Griechen im chriſtlichen Abendlande allmälig erkannt worden. So hatte zunächſt innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums die Theologie (gewiſſermaßen eine Metaphyſik der religiöſen Er- fahrung) das vorherrſchende Intereſſe der Araber, Juden und abendländiſchen Völker in Anſpruch genommen. Wol war ſie vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewieſen, und die Mutazila ſo gut als Auguſtinus oder Scotus Erigena bedienten ſich dieſer in einem weiten Umfang; auch wurde dieſe theologiſche Vorſtellungswelt disciplinirt durch die antike Logik und Kategorienlehre. Jedoch geſtaltete ſich der ganze Gedankenkreis während dieſes Zeitraums um den Mittelpunkt der religiöſen Erfahrungen und Vorſtellungen; dieſes centrale Intereſſe zog die Bruchſtücke griechiſchen Wiſſens an ſich und ordnete dieſelben ſich unter. Eine Aenderung in dem intellektuellen Leben des Mittel- 1) Schahraſtani I S. 3. 2) Jehuda Halevi, Kuſari S. 323 f.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/393>, abgerufen am 23.04.2024.