Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
Wo in zarten Händen hörbar
Blanke Nadelstäbe knittern,
Und die Herren stramm und ehrbar
Breiten ihrer Weisheit Flittern.
Alles scheint dir noch gewöhnlich,
Von der Sohle bis zum Scheitel,
Und du rufst, dem Weisen ähnlich:
"Alles unter'm Mond ist eitel!"
Dir genüber und zur Seite
Hier Christinos, dort Carlisten,
Lauter ordinäre Leute,
Deutsche Michel, gute Christen!
Aber sieh die weißen schmalen
Finger sich zum Griff bereiten,
Und die dampfumhüllten Schalen
Zierlich an die Lippen gleiten:
Noch Minuten -- und die Stube
Ist zum Kiosk umgestaltet,
Wo der thränenreiche Bube,
Der Chinese zaubernd waltet;
Von der rosenfarbnen Rolle
Liest er seine Zauberreime,
Verse, zart wie Seidenwolle,
Süß wie Jungfernhonigseime;
Wo in zarten Händen hörbar
Blanke Nadelſtäbe knittern,
Und die Herren ſtramm und ehrbar
Breiten ihrer Weisheit Flittern.
Alles ſcheint dir noch gewöhnlich,
Von der Sohle bis zum Scheitel,
Und du rufſt, dem Weiſen ähnlich:
„Alles unter'm Mond iſt eitel!“
Dir genüber und zur Seite
Hier Chriſtinos, dort Carliſten,
Lauter ordinäre Leute,
Deutſche Michel, gute Chriſten!
Aber ſieh die weißen ſchmalen
Finger ſich zum Griff bereiten,
Und die dampfumhüllten Schalen
Zierlich an die Lippen gleiten:
Noch Minuten — und die Stube
Iſt zum Kiosk umgeſtaltet,
Wo der thränenreiche Bube,
Der Chineſe zaubernd waltet;
Von der roſenfarbnen Rolle
Lieſt er ſeine Zauberreime,
Verſe, zart wie Seidenwolle,
Süß wie Jungfernhonigſeime;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0232" n="218"/>
            <lg n="6">
              <l>Wo in zarten Händen hörbar</l><lb/>
              <l>Blanke Nadel&#x017F;täbe knittern,</l><lb/>
              <l>Und die Herren &#x017F;tramm und ehrbar</l><lb/>
              <l>Breiten ihrer Weisheit Flittern.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="7">
              <l>Alles &#x017F;cheint dir noch gewöhnlich,</l><lb/>
              <l>Von der Sohle bis zum Scheitel,</l><lb/>
              <l>Und du ruf&#x017F;t, dem Wei&#x017F;en ähnlich:</l><lb/>
              <l>&#x201E;Alles unter'm Mond i&#x017F;t eitel!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="8">
              <l>Dir genüber und zur Seite</l><lb/>
              <l>Hier Chri&#x017F;tinos, dort Carli&#x017F;ten,</l><lb/>
              <l>Lauter ordinäre Leute,</l><lb/>
              <l>Deut&#x017F;che Michel, gute Chri&#x017F;ten!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="9">
              <l>Aber &#x017F;ieh die weißen &#x017F;chmalen</l><lb/>
              <l>Finger &#x017F;ich zum Griff bereiten,</l><lb/>
              <l>Und die dampfumhüllten Schalen</l><lb/>
              <l>Zierlich an die Lippen gleiten:</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="10">
              <l>Noch Minuten &#x2014; und die Stube</l><lb/>
              <l>I&#x017F;t zum Kiosk umge&#x017F;taltet,</l><lb/>
              <l>Wo der thränenreiche Bube,</l><lb/>
              <l>Der Chine&#x017F;e zaubernd waltet;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="11">
              <l>Von der ro&#x017F;enfarbnen Rolle</l><lb/>
              <l>Lie&#x017F;t er &#x017F;eine Zauberreime,</l><lb/>
              <l>Ver&#x017F;e, zart wie Seidenwolle,</l><lb/>
              <l>Süß wie Jungfernhonig&#x017F;eime;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0232] Wo in zarten Händen hörbar Blanke Nadelſtäbe knittern, Und die Herren ſtramm und ehrbar Breiten ihrer Weisheit Flittern. Alles ſcheint dir noch gewöhnlich, Von der Sohle bis zum Scheitel, Und du rufſt, dem Weiſen ähnlich: „Alles unter'm Mond iſt eitel!“ Dir genüber und zur Seite Hier Chriſtinos, dort Carliſten, Lauter ordinäre Leute, Deutſche Michel, gute Chriſten! Aber ſieh die weißen ſchmalen Finger ſich zum Griff bereiten, Und die dampfumhüllten Schalen Zierlich an die Lippen gleiten: Noch Minuten — und die Stube Iſt zum Kiosk umgeſtaltet, Wo der thränenreiche Bube, Der Chineſe zaubernd waltet; Von der roſenfarbnen Rolle Lieſt er ſeine Zauberreime, Verſe, zart wie Seidenwolle, Süß wie Jungfernhonigſeime;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/232
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/232>, abgerufen am 29.03.2024.