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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

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Am Sockel kreucht der Drachenwurm, und scheint zum Grund
hinabzukrallen,
Zum todten Wuchrer unter'm Stein, von eigner Frevelhand
gefallen,
Wohl hat ihm Gold ein ehrlich Grab geworben an der Fried¬
hofsmauer,
Doch drüber zuckt sein Flammenschwert Sankt Michael in
Zorn und Trauer,
So silbergrau, ein Nachtgesicht,
Steht das versteinerte Gericht.
Vom öden Hause, seinem einst, wo blutge Thränen sind
geflossen,
Hat sich ein seltsam dämmernd Licht bis an den Marmel¬
stein ergossen,
Es ist als ob das Monument bei der Berührung zitternd
schwanke,
Im Schnee wühlend eine Hand dem Schuldner sich entgegen
ranke;
Er kömmt, er naht, die Pforte dröhnt,
Er hat sich an den Stein gelehnt;
Bleich wie der Marmor über ihm, und finster wie das Kreuz
zur Seiten,
Von Stirn und Wimper, Zähren gleich, geschmolznen Reifes
Tropfen gleiten;
Was er in dieser schweren Nacht gelitten oder auch gesündet,
Er hat es Keinem je geklagt und Keinem reuig es verkündet;
In's Dunkel starrt er, wie man wohl
So starrt gedankenlos und hohl.
Am Sockel kreucht der Drachenwurm, und ſcheint zum Grund
hinabzukrallen,
Zum todten Wuchrer unter'm Stein, von eigner Frevelhand
gefallen,
Wohl hat ihm Gold ein ehrlich Grab geworben an der Fried¬
hofsmauer,
Doch drüber zuckt ſein Flammenſchwert Sankt Michael in
Zorn und Trauer,
So ſilbergrau, ein Nachtgeſicht,
Steht das verſteinerte Gericht.
Vom öden Hauſe, ſeinem einſt, wo blutge Thränen ſind
gefloſſen,
Hat ſich ein ſeltſam dämmernd Licht bis an den Marmel¬
ſtein ergoſſen,
Es iſt als ob das Monument bei der Berührung zitternd
ſchwanke,
Im Schnee wühlend eine Hand dem Schuldner ſich entgegen
ranke;
Er kömmt, er naht, die Pforte dröhnt,
Er hat ſich an den Stein gelehnt;
Bleich wie der Marmor über ihm, und finſter wie das Kreuz
zur Seiten,
Von Stirn und Wimper, Zähren gleich, geſchmolznen Reifes
Tropfen gleiten;
Was er in dieſer ſchweren Nacht gelitten oder auch geſündet,
Er hat es Keinem je geklagt und Keinem reuig es verkündet;
In's Dunkel ſtarrt er, wie man wohl
So ſtarrt gedankenlos und hohl.
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[379/0393] Am Sockel kreucht der Drachenwurm, und ſcheint zum Grund hinabzukrallen, Zum todten Wuchrer unter'm Stein, von eigner Frevelhand gefallen, Wohl hat ihm Gold ein ehrlich Grab geworben an der Fried¬ hofsmauer, Doch drüber zuckt ſein Flammenſchwert Sankt Michael in Zorn und Trauer, So ſilbergrau, ein Nachtgeſicht, Steht das verſteinerte Gericht. Vom öden Hauſe, ſeinem einſt, wo blutge Thränen ſind gefloſſen, Hat ſich ein ſeltſam dämmernd Licht bis an den Marmel¬ ſtein ergoſſen, Es iſt als ob das Monument bei der Berührung zitternd ſchwanke, Im Schnee wühlend eine Hand dem Schuldner ſich entgegen ranke; Er kömmt, er naht, die Pforte dröhnt, Er hat ſich an den Stein gelehnt; Bleich wie der Marmor über ihm, und finſter wie das Kreuz zur Seiten, Von Stirn und Wimper, Zähren gleich, geſchmolznen Reifes Tropfen gleiten; Was er in dieſer ſchweren Nacht gelitten oder auch geſündet, Er hat es Keinem je geklagt und Keinem reuig es verkündet; In's Dunkel ſtarrt er, wie man wohl So ſtarrt gedankenlos und hohl.

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/393>, abgerufen am 28.03.2024.