Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Die Kritik.
§. 28.

Die Kritik sucht nicht die "eigentliche historische Thatsache";
denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln,
Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein
Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Mo-
ment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueber-
resten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurde, oder
in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen.

§. 29.

Die Aufgabe der Kritik ist zu bestimmen, in welchem Verhältniss
das vorliegende historische Material zu den Willensacten steht, von
denen es Zeugniss giebt.

Die Formen der Kritik bestimmen sich nach dem Verhältniss des
zu prüfenden Materials zu den Willensacten, von denen es seine For-
mung erhielt.

§. 30.

a) Es fragt sich, ob dies Material wirklich das ist, wofür es
gehalten wird oder gehalten werden will; darauf antwortet die Kritik
der Aechtheit
.

Vollständig ist der Beweis der Unächtheit, wenn die Zeit, der Ur-
sprung, der Zweck der Fälschung nachgewiesen ist; und das Unächte
kann, so verificirt, anderweitig ein wichtiges historisches Material werden.

Eine Anwendung der Kritik der Aechtheit für einen bestimmten
Bereich von Materialien ist die Diplomatik, die Prüfung der Aecht-
heit nach äusseren Kennzeichen, im Gegensatz zu der sog. höheren
Kritik
.

§. 31.

b) Es fragt sich, ob dies Material noch unverändert das ist,
was es war und sein wollte, oder welche Veränderungen an demselben
zu erkennen und ausser Rechnung zu stellen sind; darauf antwortet
die Kritik des Früheren und Späteren (das diakritische Verfahren).

II. Die Kritik.
§. 28.

Die Kritik sucht nicht die „eigentliche historische Thatsache“;
denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln,
Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein
Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Mo-
ment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueber-
resten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurde, oder
in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen.

§. 29.

Die Aufgabe der Kritik ist zu bestimmen, in welchem Verhältniss
das vorliegende historische Material zu den Willensacten steht, von
denen es Zeugniss giebt.

Die Formen der Kritik bestimmen sich nach dem Verhältniss des
zu prüfenden Materials zu den Willensacten, von denen es seine For-
mung erhielt.

§. 30.

a) Es fragt sich, ob dies Material wirklich das ist, wofür es
gehalten wird oder gehalten werden will; darauf antwortet die Kritik
der Aechtheit
.

Vollständig ist der Beweis der Unächtheit, wenn die Zeit, der Ur-
sprung, der Zweck der Fälschung nachgewiesen ist; und das Unächte
kann, so verificirt, anderweitig ein wichtiges historisches Material werden.

Eine Anwendung der Kritik der Aechtheit für einen bestimmten
Bereich von Materialien ist die Diplomatik, die Prüfung der Aecht-
heit nach äusseren Kennzeichen, im Gegensatz zu der sog. höheren
Kritik
.

§. 31.

b) Es fragt sich, ob dies Material noch unverändert das ist,
was es war und sein wollte, oder welche Veränderungen an demselben
zu erkennen und ausser Rechnung zu stellen sind; darauf antwortet
die Kritik des Früheren und Späteren (das diakritische Verfahren).

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0025" n="16"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">II. Die Kritik.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 28.</head><lb/>
              <p>Die Kritik sucht nicht die &#x201E;eigentliche historische Thatsache&#x201C;;<lb/>
denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln,<lb/>
Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein<lb/>
Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Mo-<lb/>
ment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueber-<lb/>
resten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurde, oder<lb/>
in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 29.</head><lb/>
              <p>Die Aufgabe der Kritik ist zu bestimmen, in welchem Verhältniss<lb/>
das vorliegende historische Material zu den Willensacten steht, von<lb/>
denen es Zeugniss giebt.</p><lb/>
              <p>Die Formen der Kritik bestimmen sich nach dem Verhältniss des<lb/>
zu prüfenden Materials zu den Willensacten, von denen es seine For-<lb/>
mung erhielt.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 30.</head><lb/>
              <p>a) Es fragt sich, ob dies Material wirklich das ist, wofür es<lb/>
gehalten wird oder gehalten werden will; darauf antwortet die <hi rendition="#g">Kritik<lb/>
der Aechtheit</hi>.</p><lb/>
              <p>Vollständig ist der Beweis der Unächtheit, wenn die Zeit, der Ur-<lb/>
sprung, der Zweck der Fälschung nachgewiesen ist; und das Unächte<lb/>
kann, so verificirt, anderweitig ein wichtiges historisches Material werden.</p><lb/>
              <p>Eine Anwendung der Kritik der Aechtheit für einen bestimmten<lb/>
Bereich von Materialien ist die <hi rendition="#g">Diplomatik</hi>, die Prüfung der Aecht-<lb/>
heit nach äusseren Kennzeichen, im Gegensatz zu der sog. <hi rendition="#g">höheren<lb/>
Kritik</hi>.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 31.</head><lb/>
              <p>b) Es fragt sich, ob dies Material noch unverändert das ist,<lb/>
was es war und sein wollte, oder welche Veränderungen an demselben<lb/>
zu erkennen und ausser Rechnung zu stellen sind; darauf antwortet<lb/><hi rendition="#g">die Kritik des Früheren und Späteren</hi> (das diakritische Verfahren).</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0025] II. Die Kritik. §. 28. Die Kritik sucht nicht die „eigentliche historische Thatsache“; denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln, Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Mo- ment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueber- resten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurde, oder in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen. §. 29. Die Aufgabe der Kritik ist zu bestimmen, in welchem Verhältniss das vorliegende historische Material zu den Willensacten steht, von denen es Zeugniss giebt. Die Formen der Kritik bestimmen sich nach dem Verhältniss des zu prüfenden Materials zu den Willensacten, von denen es seine For- mung erhielt. §. 30. a) Es fragt sich, ob dies Material wirklich das ist, wofür es gehalten wird oder gehalten werden will; darauf antwortet die Kritik der Aechtheit. Vollständig ist der Beweis der Unächtheit, wenn die Zeit, der Ur- sprung, der Zweck der Fälschung nachgewiesen ist; und das Unächte kann, so verificirt, anderweitig ein wichtiges historisches Material werden. Eine Anwendung der Kritik der Aechtheit für einen bestimmten Bereich von Materialien ist die Diplomatik, die Prüfung der Aecht- heit nach äusseren Kennzeichen, im Gegensatz zu der sog. höheren Kritik. §. 31. b) Es fragt sich, ob dies Material noch unverändert das ist, was es war und sein wollte, oder welche Veränderungen an demselben zu erkennen und ausser Rechnung zu stellen sind; darauf antwortet die Kritik des Früheren und Späteren (das diakritische Verfahren).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/25
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/25>, abgerufen am 24.04.2024.