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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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von Stoffen und Werkzeugen (das unermessliche Feld der technologi-
schen Interpretation, das fast noch unberührt ist); in dem der mora-
lischen auch die Leidenschaften der Menschen, Stimmungen der Massen,
herrschende Vorurtheile oder Meinungen u. s. w.

§. 41.

Die psychologische Interpretation sucht in dem Sach-
verlauf die Willensacte, die ihn hervorbrachten.

Sie mag die Wollenden und ihr Wollen erkennen, so weit es in
den Zusammenhang dieses Sachverlaufes einschlug. Aber weder gingen
die Wollenden ganz in diesem Einen auf, noch ist das, was wird, nur
durch die Wollenden; es ist weder der reine, noch der ganze Ausdruck
ihrer Persönlichkeit.

Jeder Einzelne hat seine Welt, deren Mittelpunkt sein Ich ist.
In dies Heiligthum dringt der Blick der Forschung nicht.

Wohl versteht der Mensch den Menschen, aber nur peripherisch;
er nimmt seine That, seine Rede, seine Miene wahr, aber immer nur
diese eine, diesen Moment. Beweisen, dass er ihn richtig, dass er ihn
ganz verstanden, kann er nicht. Ein Anderes ist, dass der Freund an
den Freund glaubt, dass in der Liebe der Eine des Andern wahres
Ich als dessen Bild festhält: so musst Du sein, denn so verstehe ich
Dich. Das ist das Geheimniss aller Erziehung.

Die Dichter (Shakespeare) entwickeln aus den Charakteren der
Personen den Sachverlauf, den sie darstellen; sie dichten zu dem Er-
eigniss die psychologische Interpretation desselben. In der Wirklichkeit
wirken noch andere Momente als die Persönlichkeit.

Die Dinge gehen ihren Gang trotz des guten oder bösen Willens
derer, durch welche sie sich vollziehen.

§. 42.

Die Interpretation der Ideen füllt die Lücke, welche die
psychologische Interpretation lässt.

Denn der Einzelne auferbaut sich seine Welt in dem Maass, als er
an den sittlichen Mächten (§. 60) Theil hat. Diese an seinem Theil zu
verwirklichen ist der nächst höhere Zweck seines Lebens.

Die Ideen der sittlichen Welt sind an sich in der menschlichen

von Stoffen und Werkzeugen (das unermessliche Feld der technologi-
schen Interpretation, das fast noch unberührt ist); in dem der mora-
lischen auch die Leidenschaften der Menschen, Stimmungen der Massen,
herrschende Vorurtheile oder Meinungen u. s. w.

§. 41.

Die psychologische Interpretation sucht in dem Sach-
verlauf die Willensacte, die ihn hervorbrachten.

Sie mag die Wollenden und ihr Wollen erkennen, so weit es in
den Zusammenhang dieses Sachverlaufes einschlug. Aber weder gingen
die Wollenden ganz in diesem Einen auf, noch ist das, was wird, nur
durch die Wollenden; es ist weder der reine, noch der ganze Ausdruck
ihrer Persönlichkeit.

Jeder Einzelne hat seine Welt, deren Mittelpunkt sein Ich ist.
In dies Heiligthum dringt der Blick der Forschung nicht.

Wohl versteht der Mensch den Menschen, aber nur peripherisch;
er nimmt seine That, seine Rede, seine Miene wahr, aber immer nur
diese eine, diesen Moment. Beweisen, dass er ihn richtig, dass er ihn
ganz verstanden, kann er nicht. Ein Anderes ist, dass der Freund an
den Freund glaubt, dass in der Liebe der Eine des Andern wahres
Ich als dessen Bild festhält: so musst Du sein, denn so verstehe ich
Dich. Das ist das Geheimniss aller Erziehung.

Die Dichter (Shakespeare) entwickeln aus den Charakteren der
Personen den Sachverlauf, den sie darstellen; sie dichten zu dem Er-
eigniss die psychologische Interpretation desselben. In der Wirklichkeit
wirken noch andere Momente als die Persönlichkeit.

Die Dinge gehen ihren Gang trotz des guten oder bösen Willens
derer, durch welche sie sich vollziehen.

§. 42.

Die Interpretation der Ideen füllt die Lücke, welche die
psychologische Interpretation lässt.

Denn der Einzelne auferbaut sich seine Welt in dem Maass, als er
an den sittlichen Mächten (§. 60) Theil hat. Diese an seinem Theil zu
verwirklichen ist der nächst höhere Zweck seines Lebens.

Die Ideen der sittlichen Welt sind an sich in der menschlichen

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[21/0030] von Stoffen und Werkzeugen (das unermessliche Feld der technologi- schen Interpretation, das fast noch unberührt ist); in dem der mora- lischen auch die Leidenschaften der Menschen, Stimmungen der Massen, herrschende Vorurtheile oder Meinungen u. s. w. §. 41. Die psychologische Interpretation sucht in dem Sach- verlauf die Willensacte, die ihn hervorbrachten. Sie mag die Wollenden und ihr Wollen erkennen, so weit es in den Zusammenhang dieses Sachverlaufes einschlug. Aber weder gingen die Wollenden ganz in diesem Einen auf, noch ist das, was wird, nur durch die Wollenden; es ist weder der reine, noch der ganze Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Jeder Einzelne hat seine Welt, deren Mittelpunkt sein Ich ist. In dies Heiligthum dringt der Blick der Forschung nicht. Wohl versteht der Mensch den Menschen, aber nur peripherisch; er nimmt seine That, seine Rede, seine Miene wahr, aber immer nur diese eine, diesen Moment. Beweisen, dass er ihn richtig, dass er ihn ganz verstanden, kann er nicht. Ein Anderes ist, dass der Freund an den Freund glaubt, dass in der Liebe der Eine des Andern wahres Ich als dessen Bild festhält: so musst Du sein, denn so verstehe ich Dich. Das ist das Geheimniss aller Erziehung. Die Dichter (Shakespeare) entwickeln aus den Charakteren der Personen den Sachverlauf, den sie darstellen; sie dichten zu dem Er- eigniss die psychologische Interpretation desselben. In der Wirklichkeit wirken noch andere Momente als die Persönlichkeit. Die Dinge gehen ihren Gang trotz des guten oder bösen Willens derer, durch welche sie sich vollziehen. §. 42. Die Interpretation der Ideen füllt die Lücke, welche die psychologische Interpretation lässt. Denn der Einzelne auferbaut sich seine Welt in dem Maass, als er an den sittlichen Mächten (§. 60) Theil hat. Diese an seinem Theil zu verwirklichen ist der nächst höhere Zweck seines Lebens. Die Ideen der sittlichen Welt sind an sich in der menschlichen

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/30>, abgerufen am 29.03.2024.