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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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und an deren Wesen und Werden er Theil hat, -- er selbst nur wie
Ein Ausdruck dieses Wesens und Werdens.

Die Gesammtheit der Zeiten, Völker u. s. w. ist nur wie Ein Aus-
druck der absoluten Totalität.

Aus der Geschichte, auch aus ihr lernen wir Gott verstehen; und
nur in Gott können wir die Geschichte verstehen.

Deus est principium, medium et finis ... caetera quae dicuntur
esse, theophaniae sunt. Scot. Erig. de div. nat. III. 4. p. 103.

§. 13.

Die falsche Alternative der materialistischen und idealistischen
Weltanschauung, versöhnt sich in der historischen Weltanschauung. Denn
das Wesen der sittlichen d. h. der geschichtlichen Welt ist, dass sich
in jedem Augenblick jener Gegensatz versöhnt, um sich zu erneuen,
sich erneut, um sich zu versöhnen.

§. 14.

Nach den Objecten und nach der Natur des menschlichen Denkens
sind die drei möglichen wissenschaftlichen Methoden: die (philo-
sophisch oder theologisch) speculative, die mathematisch-physikalische,
die historische.

Ihr Wesen ist: zu erkennen, zu erklären, zu verstehen.

Daher der alte Canon der Wissenschaften: Logik, Physik, Ethik:
-- nicht drei Wege zu Einem Ziel, sondern die drei Seiten eines Prisma,
wenn das menschliche Auge das ewige Licht, dessen Glanz es nicht zu
ertragen vermag, im Farbenwiederschein ahnen will.

§. 15.

Die sittliche Welt, rastlos von vielen Zwecken und schliesslich
von dem Zweck der Zwecke bewegt, ist eine rastlos wachsende, sich
weiter zeugende (ad ora ad ora come l'uom s'eterna. Dante Inf. XV. 84).

Die sittliche Welt, unter dem Gesichtspunkte ihres Werdens und
Wachsens betrachtet, ist die Geschichte. Mit jedem Schritt weiter in
diesem Werden und Wachsen erweitert und vertieft sich ihr Verständ-
niss, d. i. ihr Verstandenwerden und ihr Verstehen; das Wissen von
ihr ist sie selbst; sie hat rastlos neu arbeitend ihre Forschungen zu
vertiefen, ihren Gesichtskreis zu erweitern.

und an deren Wesen und Werden er Theil hat, — er selbst nur wie
Ein Ausdruck dieses Wesens und Werdens.

Die Gesammtheit der Zeiten, Völker u. s. w. ist nur wie Ein Aus-
druck der absoluten Totalität.

Aus der Geschichte, auch aus ihr lernen wir Gott verstehen; und
nur in Gott können wir die Geschichte verstehen.

Deus est principium, medium et finis … caetera quae dicuntur
esse, theophaniae sunt. Scot. Erig. de div. nat. III. 4. p. 103.

§. 13.

Die falsche Alternative der materialistischen und idealistischen
Weltanschauung, versöhnt sich in der historischen Weltanschauung. Denn
das Wesen der sittlichen d. h. der geschichtlichen Welt ist, dass sich
in jedem Augenblick jener Gegensatz versöhnt, um sich zu erneuen,
sich erneut, um sich zu versöhnen.

§. 14.

Nach den Objecten und nach der Natur des menschlichen Denkens
sind die drei möglichen wissenschaftlichen Methoden: die (philo-
sophisch oder theologisch) speculative, die mathematisch-physikalische,
die historische.

Ihr Wesen ist: zu erkennen, zu erklären, zu verstehen.

Daher der alte Canon der Wissenschaften: Logik, Physik, Ethik:
— nicht drei Wege zu Einem Ziel, sondern die drei Seiten eines Prisma,
wenn das menschliche Auge das ewige Licht, dessen Glanz es nicht zu
ertragen vermag, im Farbenwiederschein ahnen will.

§. 15.

Die sittliche Welt, rastlos von vielen Zwecken und schliesslich
von dem Zweck der Zwecke bewegt, ist eine rastlos wachsende, sich
weiter zeugende (ad ora ad ora come l’uom s’eterna. Dante Inf. XV. 84).

Die sittliche Welt, unter dem Gesichtspunkte ihres Werdens und
Wachsens betrachtet, ist die Geschichte. Mit jedem Schritt weiter in
diesem Werden und Wachsen erweitert und vertieft sich ihr Verständ-
niss, d. i. ihr Verstandenwerden und ihr Verstehen; das Wissen von
ihr ist sie selbst; sie hat rastlos neu arbeitend ihre Forschungen zu
vertiefen, ihren Gesichtskreis zu erweitern.

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[11/0020] und an deren Wesen und Werden er Theil hat, — er selbst nur wie Ein Ausdruck dieses Wesens und Werdens. Die Gesammtheit der Zeiten, Völker u. s. w. ist nur wie Ein Aus- druck der absoluten Totalität. Aus der Geschichte, auch aus ihr lernen wir Gott verstehen; und nur in Gott können wir die Geschichte verstehen. Deus est principium, medium et finis … caetera quae dicuntur esse, theophaniae sunt. Scot. Erig. de div. nat. III. 4. p. 103. §. 13. Die falsche Alternative der materialistischen und idealistischen Weltanschauung, versöhnt sich in der historischen Weltanschauung. Denn das Wesen der sittlichen d. h. der geschichtlichen Welt ist, dass sich in jedem Augenblick jener Gegensatz versöhnt, um sich zu erneuen, sich erneut, um sich zu versöhnen. §. 14. Nach den Objecten und nach der Natur des menschlichen Denkens sind die drei möglichen wissenschaftlichen Methoden: die (philo- sophisch oder theologisch) speculative, die mathematisch-physikalische, die historische. Ihr Wesen ist: zu erkennen, zu erklären, zu verstehen. Daher der alte Canon der Wissenschaften: Logik, Physik, Ethik: — nicht drei Wege zu Einem Ziel, sondern die drei Seiten eines Prisma, wenn das menschliche Auge das ewige Licht, dessen Glanz es nicht zu ertragen vermag, im Farbenwiederschein ahnen will. §. 15. Die sittliche Welt, rastlos von vielen Zwecken und schliesslich von dem Zweck der Zwecke bewegt, ist eine rastlos wachsende, sich weiter zeugende (ad ora ad ora come l’uom s’eterna. Dante Inf. XV. 84). Die sittliche Welt, unter dem Gesichtspunkte ihres Werdens und Wachsens betrachtet, ist die Geschichte. Mit jedem Schritt weiter in diesem Werden und Wachsen erweitert und vertieft sich ihr Verständ- niss, d. i. ihr Verstandenwerden und ihr Verstehen; das Wissen von ihr ist sie selbst; sie hat rastlos neu arbeitend ihre Forschungen zu vertiefen, ihren Gesichtskreis zu erweitern.

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/20>, abgerufen am 24.04.2024.