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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Die Systematik.

§. 49.

Das Gebiet der historischen Methode ist der Kosmos der sitt-
lichen Welt
.

Die sittliche Welt ist je in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein
endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Con-
flicten, Leidenschaften u. s. w. Sie kann nach vielerlei Gesichtspunkten,
technischen, rechtlichen, religiösen, politischen u. s. w. betrachtet werden;
sie ist ihrer eigensten Natur nach historisch; sie ist es in jeder ihrer
Gestaltungen, in jedem Puls ihrer Bewegung.

Die historische Wissenschaft ist so wenig eine Photographie aller
dieser Wirklichkeiten, wie die Naturwissenschaft eine Sammlung aller
Einzelnheiten der natürlichen Welt. Beide Wissenschaften sind Be-
trachtungsweisen des menschlichen Geistes, sind dessen Formen, die sitt-
liche, die natürliche Welt wissend zu fassen und zu haben.

Die sittliche Welt in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Be-
wegung betrachten, heisst sie geschichtlich betrachten (§. 15).

§. 50.

Das Geheimniss aller Bewegung ist ihr Zweck (to othen e kinesis).
Indem die geschichtliche Betrachtung in der Bewegung der sittlichen
Welt deren Fortschreiten erkennt, deren Richtung verfolgt, Zweck
auf Zweck sich erfüllen sieht, ahnet sie, dass in dem Zweck der
Zwecke sich die Bewegung schliesst, dass das, was diese Welt bewegt,
umtreibt, rastlos weiter eilen macht, dort Ruhe, Vollendung, ewige Gegen-
wart ist.

Die Systematik.

§. 49.

Das Gebiet der historischen Methode ist der Kosmos der sitt-
lichen Welt
.

Die sittliche Welt ist je in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein
endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Con-
flicten, Leidenschaften u. s. w. Sie kann nach vielerlei Gesichtspunkten,
technischen, rechtlichen, religiösen, politischen u. s. w. betrachtet werden;
sie ist ihrer eigensten Natur nach historisch; sie ist es in jeder ihrer
Gestaltungen, in jedem Puls ihrer Bewegung.

Die historische Wissenschaft ist so wenig eine Photographie aller
dieser Wirklichkeiten, wie die Naturwissenschaft eine Sammlung aller
Einzelnheiten der natürlichen Welt. Beide Wissenschaften sind Be-
trachtungsweisen des menschlichen Geistes, sind dessen Formen, die sitt-
liche, die natürliche Welt wissend zu fassen und zu haben.

Die sittliche Welt in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Be-
wegung betrachten, heisst sie geschichtlich betrachten (§. 15).

§. 50.

Das Geheimniss aller Bewegung ist ihr Zweck (τὸ ὅϑεν ἡ κίνησις).
Indem die geschichtliche Betrachtung in der Bewegung der sittlichen
Welt deren Fortschreiten erkennt, deren Richtung verfolgt, Zweck
auf Zweck sich erfüllen sieht, ahnet sie, dass in dem Zweck der
Zwecke sich die Bewegung schliesst, dass das, was diese Welt bewegt,
umtreibt, rastlos weiter eilen macht, dort Ruhe, Vollendung, ewige Gegen-
wart ist.

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[[26]/0035] Die Systematik. §. 49. Das Gebiet der historischen Methode ist der Kosmos der sitt- lichen Welt. Die sittliche Welt ist je in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Con- flicten, Leidenschaften u. s. w. Sie kann nach vielerlei Gesichtspunkten, technischen, rechtlichen, religiösen, politischen u. s. w. betrachtet werden; sie ist ihrer eigensten Natur nach historisch; sie ist es in jeder ihrer Gestaltungen, in jedem Puls ihrer Bewegung. Die historische Wissenschaft ist so wenig eine Photographie aller dieser Wirklichkeiten, wie die Naturwissenschaft eine Sammlung aller Einzelnheiten der natürlichen Welt. Beide Wissenschaften sind Be- trachtungsweisen des menschlichen Geistes, sind dessen Formen, die sitt- liche, die natürliche Welt wissend zu fassen und zu haben. Die sittliche Welt in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Be- wegung betrachten, heisst sie geschichtlich betrachten (§. 15). §. 50. Das Geheimniss aller Bewegung ist ihr Zweck (τὸ ὅϑεν ἡ κίνησις). Indem die geschichtliche Betrachtung in der Bewegung der sittlichen Welt deren Fortschreiten erkennt, deren Richtung verfolgt, Zweck auf Zweck sich erfüllen sieht, ahnet sie, dass in dem Zweck der Zwecke sich die Bewegung schliesst, dass das, was diese Welt bewegt, umtreibt, rastlos weiter eilen macht, dort Ruhe, Vollendung, ewige Gegen- wart ist.

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. [26]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/35>, abgerufen am 28.03.2024.