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Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885.

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überlassen bleiben, den Stoff für jene tastende, jedenfalls aber
unreife Experimentalpraxis zu liefern, auf welche selbst bei be-
gabteren und unternehmenden Naturen doch mindestens ein halbes
Jahrzehnt zu verrechnen ist; denn hier beginnt erst das eigent-
liche Lernen. Auch beginnt hier erst die Gewöhnung an ge-
legentliche Berufsstrapazen, und es ist allerdings der beste Theil
des Lebens vernutzt, wenn der Mann dazu kommt, wahrhaft
selbständig und in seinem Berufsgebiet zu Hause zu sein. Es
mag also den Medicinern nicht übel genommen werden, wenn sie
von der Kräfteauszehrung, der sie auf ihrem Lernwege anheim-
fallen, viel Aufhebens machen und das weibliche Geschlecht ab-
schrecken zu müssen glauben. Wenn sie aber überhaupt die ge-
legentlichen Strapazen der wirklichen Praxis so hoch veran-
schlagen, dass sie den Weibern die physische, moralische und
geistige Fähigkeit absprechen, den verschiedenen Vorkommnissen
gewachsen zu sein, so mögen sie sich doch erinnern, dass sie
anderwärts, wo es sich nicht um Concurrenz handelt, die Frauen
für Strapazen ganz zurechnungsfähig erachten. Oder sind die
Leistungen der weiblichen Krankenpflege im Frieden und im
Kriege etwa nicht oft noch angreifender, als die eigentlich ärzt-
lichen Hantirungen, die sich, abgesehen von der Chirurgie, meist
auf blosse Anordnungen beschränken und sich von den gröbern
Unannehmlichkeiten meist in vornehmer Ferne zu halten wissen?
Das Weib, welches dazu ausreicht, die schwersten und gefahr-
vollsten unter den niedern Krankendiensten zu verrichten, soll
seltsamerweise für die feineren eine zu zarte Leibes- und Hirn-
verfassung haben! Die Frauen, die man als Wärterinnen und in
der Krankenpflege nicht genug rühmen kann und deren gesell-
schaftliche Berührung mit dem Aerztepersonal der Krankenhäuser
keinen Anstoss erregt, sollen mit einem Mal aus ihrer
Natursphäre weichen, wenn sie danach streben, an Wissen und Thun
der Aerzte theilzunehmen. Fort also mit diesem gebrechlichen
Einwand, der, genauer besehen, ein blosser Vorwand ist! Man hat
doch sonst nie gezögert, das Weib zur Trägerin der schlimmsten
Lasten zu machen und ihm die Dulderrolle aufzuzwingen. Was
Frauen ertragen konnten und mussten, lehrt die Geschichte der
Gesellschaft in grossen Zügen und beweist jeder unbefangene
Blick auf das Loos der Masse des weiblichen Geschlechts. Die
schlimmere Arbeit ist stets auf den schwächeren Theil abgewälzt
worden und zwar um so mehr, je roher ein Stamm und je

überlassen bleiben, den Stoff für jene tastende, jedenfalls aber
unreife Experimentalpraxis zu liefern, auf welche selbst bei be-
gabteren und unternehmenden Naturen doch mindestens ein halbes
Jahrzehnt zu verrechnen ist; denn hier beginnt erst das eigent-
liche Lernen. Auch beginnt hier erst die Gewöhnung an ge-
legentliche Berufsstrapazen, und es ist allerdings der beste Theil
des Lebens vernutzt, wenn der Mann dazu kommt, wahrhaft
selbständig und in seinem Berufsgebiet zu Hause zu sein. Es
mag also den Medicinern nicht übel genommen werden, wenn sie
von der Kräfteauszehrung, der sie auf ihrem Lernwege anheim-
fallen, viel Aufhebens machen und das weibliche Geschlecht ab-
schrecken zu müssen glauben. Wenn sie aber überhaupt die ge-
legentlichen Strapazen der wirklichen Praxis so hoch veran-
schlagen, dass sie den Weibern die physische, moralische und
geistige Fähigkeit absprechen, den verschiedenen Vorkommnissen
gewachsen zu sein, so mögen sie sich doch erinnern, dass sie
anderwärts, wo es sich nicht um Concurrenz handelt, die Frauen
für Strapazen ganz zurechnungsfähig erachten. Oder sind die
Leistungen der weiblichen Krankenpflege im Frieden und im
Kriege etwa nicht oft noch angreifender, als die eigentlich ärzt-
lichen Hantirungen, die sich, abgesehen von der Chirurgie, meist
auf blosse Anordnungen beschränken und sich von den gröbern
Unannehmlichkeiten meist in vornehmer Ferne zu halten wissen?
Das Weib, welches dazu ausreicht, die schwersten und gefahr-
vollsten unter den niedern Krankendiensten zu verrichten, soll
seltsamerweise für die feineren eine zu zarte Leibes- und Hirn-
verfassung haben! Die Frauen, die man als Wärterinnen und in
der Krankenpflege nicht genug rühmen kann und deren gesell-
schaftliche Berührung mit dem Aerztepersonal der Krankenhäuser
keinen Anstoss erregt, sollen mit einem Mal aus ihrer
Natursphäre weichen, wenn sie danach streben, an Wissen und Thun
der Aerzte theilzunehmen. Fort also mit diesem gebrechlichen
Einwand, der, genauer besehen, ein blosser Vorwand ist! Man hat
doch sonst nie gezögert, das Weib zur Trägerin der schlimmsten
Lasten zu machen und ihm die Dulderrolle aufzuzwingen. Was
Frauen ertragen konnten und mussten, lehrt die Geschichte der
Gesellschaft in grossen Zügen und beweist jeder unbefangene
Blick auf das Loos der Masse des weiblichen Geschlechts. Die
schlimmere Arbeit ist stets auf den schwächeren Theil abgewälzt
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[19/0028] überlassen bleiben, den Stoff für jene tastende, jedenfalls aber unreife Experimentalpraxis zu liefern, auf welche selbst bei be- gabteren und unternehmenden Naturen doch mindestens ein halbes Jahrzehnt zu verrechnen ist; denn hier beginnt erst das eigent- liche Lernen. Auch beginnt hier erst die Gewöhnung an ge- legentliche Berufsstrapazen, und es ist allerdings der beste Theil des Lebens vernutzt, wenn der Mann dazu kommt, wahrhaft selbständig und in seinem Berufsgebiet zu Hause zu sein. Es mag also den Medicinern nicht übel genommen werden, wenn sie von der Kräfteauszehrung, der sie auf ihrem Lernwege anheim- fallen, viel Aufhebens machen und das weibliche Geschlecht ab- schrecken zu müssen glauben. Wenn sie aber überhaupt die ge- legentlichen Strapazen der wirklichen Praxis so hoch veran- schlagen, dass sie den Weibern die physische, moralische und geistige Fähigkeit absprechen, den verschiedenen Vorkommnissen gewachsen zu sein, so mögen sie sich doch erinnern, dass sie anderwärts, wo es sich nicht um Concurrenz handelt, die Frauen für Strapazen ganz zurechnungsfähig erachten. Oder sind die Leistungen der weiblichen Krankenpflege im Frieden und im Kriege etwa nicht oft noch angreifender, als die eigentlich ärzt- lichen Hantirungen, die sich, abgesehen von der Chirurgie, meist auf blosse Anordnungen beschränken und sich von den gröbern Unannehmlichkeiten meist in vornehmer Ferne zu halten wissen? Das Weib, welches dazu ausreicht, die schwersten und gefahr- vollsten unter den niedern Krankendiensten zu verrichten, soll seltsamerweise für die feineren eine zu zarte Leibes- und Hirn- verfassung haben! Die Frauen, die man als Wärterinnen und in der Krankenpflege nicht genug rühmen kann und deren gesell- schaftliche Berührung mit dem Aerztepersonal der Krankenhäuser keinen Anstoss erregt, sollen mit einem Mal aus ihrer Natursphäre weichen, wenn sie danach streben, an Wissen und Thun der Aerzte theilzunehmen. Fort also mit diesem gebrechlichen Einwand, der, genauer besehen, ein blosser Vorwand ist! Man hat doch sonst nie gezögert, das Weib zur Trägerin der schlimmsten Lasten zu machen und ihm die Dulderrolle aufzuzwingen. Was Frauen ertragen konnten und mussten, lehrt die Geschichte der Gesellschaft in grossen Zügen und beweist jeder unbefangene Blick auf das Loos der Masse des weiblichen Geschlechts. Die schlimmere Arbeit ist stets auf den schwächeren Theil abgewälzt worden und zwar um so mehr, je roher ein Stamm und je

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Zitationshilfe: Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/28>, abgerufen am 25.04.2024.