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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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Versuchsumständen. Mit den vorrückenden Tagesstunden
nimmt die geistige Frische und Empfänglichkeit mehr und
mehr ab. Die am Vormittag gelernten und zu einer späteren
Stunde wiedergelernten Reihen erfordern also, abgesehen von
allem anderen, für dieses Wiederlernen mehr Arbeit, d. h.
mehr Zeit, als wenn es in einem Zeitpunkt ebensolcher Frische
geschehen wäre wie das erste Lernen. Die für das Wieder-
lernen gefundenen Zahlen müssen daher, um vergleichbar
zu werden, einen Abzug erleiden, der, wenigstens bei 8 Stun-
den, so bedeutend ist, dass man ihn nicht mehr vernachläs-
sigen kann. Man muss ermitteln, um wieviel länger es dauert,
Reihen, die zur Zeit A in a Sekunden gelernt wurden, zur
Zeit B zu lernen. Die genaue Bestimmung dieser Grösse
aber setzt mehr Versuche voraus, als ich bisher besitze. Durch
die Anbringung einer notwendigen aber ungenauen Korrektion
werden daher die für 1 und 8 Stunden gefundenen Zahlen
noch etwas unsicherer als sie an sich schon sind.

Bei dem kleinsten Intervall von 1/3 Stunde kehrt derselbe
Übelstand in abgeschwächter Form wieder, wird aber ver-
mutlich ausgeglichen durch einen anderen Umstand. Bei der
Kürze des ganzen Intervalls schloss sich hier das Wieder-
lernen
der ersten Reihe eines Versuchs ziemlich unmittel-
bar, nach Einschiebung einer Pause von 1--2 Minuten, an
das Lernen der letzten Reihe desselben Versuchs. Das Ganze
bildet dadurch gewissermassen einen zusammenhängenden
Versuch, bei dem also das Wiederlernen der Reihen unter
allmählich ungünstigere Bedingungen der geistigen Frische
fiel. Andrerseits aber geschah das Wiederlernen nach so
kurzer Zeit noch ziemlich schnell; es beanspruchte kaum die
halbe Zeit des Lernens. Dadurch wurde das Intervall zwi-
schen dem Lernen und Wiederlernen bestimmter Reihen all-
mählich etwas kleiner; die späteren Reihen traten also unter

Versuchsumständen. Mit den vorrückenden Tagesstunden
nimmt die geistige Frische und Empfänglichkeit mehr und
mehr ab. Die am Vormittag gelernten und zu einer späteren
Stunde wiedergelernten Reihen erfordern also, abgesehen von
allem anderen, für dieses Wiederlernen mehr Arbeit, d. h.
mehr Zeit, als wenn es in einem Zeitpunkt ebensolcher Frische
geschehen wäre wie das erste Lernen. Die für das Wieder-
lernen gefundenen Zahlen müssen daher, um vergleichbar
zu werden, einen Abzug erleiden, der, wenigstens bei 8 Stun-
den, so bedeutend ist, daſs man ihn nicht mehr vernachläs-
sigen kann. Man muſs ermitteln, um wieviel länger es dauert,
Reihen, die zur Zeit A in a Sekunden gelernt wurden, zur
Zeit B zu lernen. Die genaue Bestimmung dieser Gröſse
aber setzt mehr Versuche voraus, als ich bisher besitze. Durch
die Anbringung einer notwendigen aber ungenauen Korrektion
werden daher die für 1 und 8 Stunden gefundenen Zahlen
noch etwas unsicherer als sie an sich schon sind.

Bei dem kleinsten Intervall von ⅓ Stunde kehrt derselbe
Übelstand in abgeschwächter Form wieder, wird aber ver-
mutlich ausgeglichen durch einen anderen Umstand. Bei der
Kürze des ganzen Intervalls schloſs sich hier das Wieder-
lernen
der ersten Reihe eines Versuchs ziemlich unmittel-
bar, nach Einschiebung einer Pause von 1—2 Minuten, an
das Lernen der letzten Reihe desselben Versuchs. Das Ganze
bildet dadurch gewissermaſsen einen zusammenhängenden
Versuch, bei dem also das Wiederlernen der Reihen unter
allmählich ungünstigere Bedingungen der geistigen Frische
fiel. Andrerseits aber geschah das Wiederlernen nach so
kurzer Zeit noch ziemlich schnell; es beanspruchte kaum die
halbe Zeit des Lernens. Dadurch wurde das Intervall zwi-
schen dem Lernen und Wiederlernen bestimmter Reihen all-
mählich etwas kleiner; die späteren Reihen traten also unter

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[92/0108] Versuchsumständen. Mit den vorrückenden Tagesstunden nimmt die geistige Frische und Empfänglichkeit mehr und mehr ab. Die am Vormittag gelernten und zu einer späteren Stunde wiedergelernten Reihen erfordern also, abgesehen von allem anderen, für dieses Wiederlernen mehr Arbeit, d. h. mehr Zeit, als wenn es in einem Zeitpunkt ebensolcher Frische geschehen wäre wie das erste Lernen. Die für das Wieder- lernen gefundenen Zahlen müssen daher, um vergleichbar zu werden, einen Abzug erleiden, der, wenigstens bei 8 Stun- den, so bedeutend ist, daſs man ihn nicht mehr vernachläs- sigen kann. Man muſs ermitteln, um wieviel länger es dauert, Reihen, die zur Zeit A in a Sekunden gelernt wurden, zur Zeit B zu lernen. Die genaue Bestimmung dieser Gröſse aber setzt mehr Versuche voraus, als ich bisher besitze. Durch die Anbringung einer notwendigen aber ungenauen Korrektion werden daher die für 1 und 8 Stunden gefundenen Zahlen noch etwas unsicherer als sie an sich schon sind. Bei dem kleinsten Intervall von ⅓ Stunde kehrt derselbe Übelstand in abgeschwächter Form wieder, wird aber ver- mutlich ausgeglichen durch einen anderen Umstand. Bei der Kürze des ganzen Intervalls schloſs sich hier das Wieder- lernen der ersten Reihe eines Versuchs ziemlich unmittel- bar, nach Einschiebung einer Pause von 1—2 Minuten, an das Lernen der letzten Reihe desselben Versuchs. Das Ganze bildet dadurch gewissermaſsen einen zusammenhängenden Versuch, bei dem also das Wiederlernen der Reihen unter allmählich ungünstigere Bedingungen der geistigen Frische fiel. Andrerseits aber geschah das Wiederlernen nach so kurzer Zeit noch ziemlich schnell; es beanspruchte kaum die halbe Zeit des Lernens. Dadurch wurde das Intervall zwi- schen dem Lernen und Wiederlernen bestimmter Reihen all- mählich etwas kleiner; die späteren Reihen traten also unter

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/108>, abgerufen am 25.04.2024.