Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

"Mag seyn, antwortete Goethe, allein hätte ich nicht
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich
wäre mit sehenden Augen blind geblieben und alle Er¬
forschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein
ganz todtes vergebliches Bemühen. Das Licht ist da
und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein
Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen."


"Es giebt vortreffliche Menschen, sagte Goethe, die
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬
mögen, sondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬
maligen Gegenstände mit Ruhe tief zu durchdringen.
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man
selten von ihnen erlangt was man augenblicklich wünscht,
allein auf diesem Wege wird das Höchste geleistet."

Ich brachte das Gespräch auf Ramberg. "Das
ist freylich ein Künstler ganz anderer Art, sagte Goethe,
ein höchst erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬
sirendes, das nicht seines Gleichen hat. Er verlangte
einst in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm
den Agamemnon, wie er, von Troja in seine Heimath
zurückkehrend, vom Wagen steigt, und wie es ihm
unheimlich wird, die Schwelle seines Hauses zu betre¬

I. 9

„Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich
waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬
forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein
ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da
und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein
Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“


„Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬
moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬
maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen.
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man
ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht,
allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“

Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. „Das
iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe,
ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬
ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte
einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm
den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath
zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm
unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬

I. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0149" n="129"/>
          <p>&#x201E;Mag &#x017F;eyn, antwortete Goethe, allein ha&#x0364;tte ich nicht<lb/>
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich<lb/>
wa&#x0364;re mit &#x017F;ehenden Augen blind geblieben und alle Er¬<lb/>
for&#x017F;chung und Erfahrung wa&#x0364;re nichts gewe&#x017F;en als ein<lb/>
ganz todtes vergebliches Bemu&#x0364;hen. Das Licht i&#x017F;t da<lb/>
und die Farben umgeben uns; allein tru&#x0364;gen wir kein<lb/>
Licht und keine Farben im eigenen Auge, &#x017F;o wu&#x0364;rden<lb/>
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Sonnabend den 28. Februar 1824.<lb/></dateline>
          <p>&#x201E;Es giebt vortreffliche Men&#x017F;chen, &#x017F;agte Goethe, die<lb/>
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬<lb/>
mo&#x0364;gen, &#x017F;ondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬<lb/>
maligen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde mit Ruhe tief zu durchdringen.<lb/>
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man<lb/>
&#x017F;elten von ihnen erlangt was man augenblicklich wu&#x0364;n&#x017F;cht,<lb/>
allein auf die&#x017F;em Wege wird das Ho&#x0364;ch&#x017F;te gelei&#x017F;tet.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich brachte das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch auf <hi rendition="#g">Ramberg</hi>. &#x201E;Das<lb/>
i&#x017F;t freylich ein Ku&#x0364;n&#x017F;tler ganz anderer Art, &#x017F;agte Goethe,<lb/>
ein ho&#x0364;ch&#x017F;t erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬<lb/>
&#x017F;irendes, das nicht &#x017F;eines Gleichen hat. Er verlangte<lb/>
ein&#x017F;t in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm<lb/>
den Agamemnon, wie er, von Troja in &#x017F;eine Heimath<lb/>
zuru&#x0364;ckkehrend, vom Wagen &#x017F;teigt, und wie es ihm<lb/>
unheimlich wird, die Schwelle &#x017F;eines Hau&#x017F;es zu betre¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I</hi>. 9<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0149] „Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬ forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“ Sonnabend den 28. Februar 1824. „Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬ moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬ maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht, allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“ Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. „Das iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe, ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬ ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬ I. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/149
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/149>, abgerufen am 19.04.2024.