Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich ging heute um fünf Uhr zu Goethe, den ich in
einigen Tagen nicht gesehen hatte, und verlebte mit ihm
einen schönen Abend. Ich fand ihn in seiner Arbeits¬
stube in der Dämmerung sitzend in Gesprächen mit sei¬
nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, seinem Arzt.
Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Wir sprachen
noch eine Weile in der Dämmerung, dann ward Licht
gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen
frisch und heiter vor mir zu sehen.

Er erkundigte sich, wie gewöhnlich, theilnehmend
nach dem, was mir in diesen Tagen Neues begegnet,
und ich erzählte ihm, daß ich die Bekanntschaft einer
Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht
gewöhnliches Talent rühmen, und Goethe, der einige
ihrer Producte gleichfalls kannte, stimmte in dieses Lob
mit ein. "Eins von ihren Gedichten, sagte er, wo sie
eine Gegend ihrer Heimath beschreibt, ist von einem
höchst eigenthümlichen Character. Sie hat eine gute
Richtung auf äußere Gegenstände, auch fehlt es ihr
nicht an guten inneren Eigenschaften. Freylich wäre
auch manches an ihr auszusetzen, wir wollen sie jedoch
gehen lassen und sie auf dem Wege nicht irren, den das
Talent ihr zeigen wird."

Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im

Ich ging heute um fuͤnf Uhr zu Goethe, den ich in
einigen Tagen nicht geſehen hatte, und verlebte mit ihm
einen ſchoͤnen Abend. Ich fand ihn in ſeiner Arbeits¬
ſtube in der Daͤmmerung ſitzend in Geſpraͤchen mit ſei¬
nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, ſeinem Arzt.
Ich ſetzte mich zu ihnen an den Tiſch. Wir ſprachen
noch eine Weile in der Daͤmmerung, dann ward Licht
gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen
friſch und heiter vor mir zu ſehen.

Er erkundigte ſich, wie gewoͤhnlich, theilnehmend
nach dem, was mir in dieſen Tagen Neues begegnet,
und ich erzaͤhlte ihm, daß ich die Bekanntſchaft einer
Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht
gewoͤhnliches Talent ruͤhmen, und Goethe, der einige
ihrer Producte gleichfalls kannte, ſtimmte in dieſes Lob
mit ein. „Eins von ihren Gedichten, ſagte er, wo ſie
eine Gegend ihrer Heimath beſchreibt, iſt von einem
hoͤchſt eigenthuͤmlichen Character. Sie hat eine gute
Richtung auf aͤußere Gegenſtaͤnde, auch fehlt es ihr
nicht an guten inneren Eigenſchaften. Freylich waͤre
auch manches an ihr auszuſetzen, wir wollen ſie jedoch
gehen laſſen und ſie auf dem Wege nicht irren, den das
Talent ihr zeigen wird.“

Das Geſpraͤch kam nun auf die Dichterinnen im

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0205" n="185"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Dien&#x017F;tag den 18. Januar 1825.<lb/></dateline>
          <p>Ich ging heute um fu&#x0364;nf Uhr zu Goethe, den ich in<lb/>
einigen Tagen nicht ge&#x017F;ehen hatte, und verlebte mit ihm<lb/>
einen &#x017F;cho&#x0364;nen Abend. Ich fand ihn in &#x017F;einer Arbeits¬<lb/>
&#x017F;tube in der Da&#x0364;mmerung &#x017F;itzend in Ge&#x017F;pra&#x0364;chen mit &#x017F;ei¬<lb/>
nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, &#x017F;einem Arzt.<lb/>
Ich &#x017F;etzte mich zu ihnen an den Ti&#x017F;ch. Wir &#x017F;prachen<lb/>
noch eine Weile in der Da&#x0364;mmerung, dann ward Licht<lb/>
gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen<lb/>
fri&#x017F;ch und heiter vor mir zu &#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Er erkundigte &#x017F;ich, wie gewo&#x0364;hnlich, theilnehmend<lb/>
nach dem, was mir in die&#x017F;en Tagen Neues begegnet,<lb/>
und ich erza&#x0364;hlte ihm, daß ich die Bekannt&#x017F;chaft einer<lb/>
Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht<lb/>
gewo&#x0364;hnliches Talent ru&#x0364;hmen, und Goethe, der einige<lb/>
ihrer Producte gleichfalls kannte, &#x017F;timmte in die&#x017F;es Lob<lb/>
mit ein. &#x201E;Eins von ihren Gedichten, &#x017F;agte er, wo &#x017F;ie<lb/>
eine Gegend ihrer Heimath be&#x017F;chreibt, i&#x017F;t von einem<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;t eigenthu&#x0364;mlichen Character. Sie hat eine gute<lb/>
Richtung auf a&#x0364;ußere Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, auch fehlt es ihr<lb/>
nicht an guten inneren Eigen&#x017F;chaften. Freylich wa&#x0364;re<lb/>
auch manches an ihr auszu&#x017F;etzen, wir wollen &#x017F;ie jedoch<lb/>
gehen la&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ie auf dem Wege nicht irren, den das<lb/>
Talent ihr zeigen wird.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch kam nun auf die Dichterinnen im<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0205] Dienſtag den 18. Januar 1825. Ich ging heute um fuͤnf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht geſehen hatte, und verlebte mit ihm einen ſchoͤnen Abend. Ich fand ihn in ſeiner Arbeits¬ ſtube in der Daͤmmerung ſitzend in Geſpraͤchen mit ſei¬ nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, ſeinem Arzt. Ich ſetzte mich zu ihnen an den Tiſch. Wir ſprachen noch eine Weile in der Daͤmmerung, dann ward Licht gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen friſch und heiter vor mir zu ſehen. Er erkundigte ſich, wie gewoͤhnlich, theilnehmend nach dem, was mir in dieſen Tagen Neues begegnet, und ich erzaͤhlte ihm, daß ich die Bekanntſchaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewoͤhnliches Talent ruͤhmen, und Goethe, der einige ihrer Producte gleichfalls kannte, ſtimmte in dieſes Lob mit ein. „Eins von ihren Gedichten, ſagte er, wo ſie eine Gegend ihrer Heimath beſchreibt, iſt von einem hoͤchſt eigenthuͤmlichen Character. Sie hat eine gute Richtung auf aͤußere Gegenſtaͤnde, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenſchaften. Freylich waͤre auch manches an ihr auszuſetzen, wir wollen ſie jedoch gehen laſſen und ſie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.“ Das Geſpraͤch kam nun auf die Dichterinnen im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/205
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/205>, abgerufen am 28.03.2024.