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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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seine Zeitgenossen bereits auf dem Wege zu einem sol¬
chem Ziele erblickt hätte.

Ja sogar von seinen vielseitigen poetischen Bestre¬
bungen möchte solches gelten! -- Denn es ist sehr die
Frage, ob Goethe je einen Roman würde geschrieben
haben, wenn ein Werk wie der Wilhelm Meister bey
seiner Nation bereits wäre vorhanden gewesen? Und
sehr die Frage, ob er in solchem Fall sich nicht vielleicht
ganz ausschließlich der dramatischen Poesie gewidmet
hätte? --

Was er in solchem Fall einer einseitigen Richtung
alles hervorgebracht und gewirkt haben würde, ist gar
nicht abzusehen; so viel ist jedoch gewiß, daß, sobald
man aufs Ganze sieht, kein Verständiger wünschen wird,
daß Goethe eben nicht alles dasjenige möchte hervorge¬
bracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal seinem
Schöpfer gefallen hat.


Goethe sprach mit hoher Begeisterung über Me¬
nander
. "Nächst dem Sophocles, sagte er, kenne
ich keinen, der mir so lieb wäre. Er ist durchaus rein,
edel, groß und heiter, seine Anmuth ist unerreichbar.
Daß wir so wenig von ihm besitzen, ist allerdings zu

ſeine Zeitgenoſſen bereits auf dem Wege zu einem ſol¬
chem Ziele erblickt haͤtte.

Ja ſogar von ſeinen vielſeitigen poetiſchen Beſtre¬
bungen moͤchte ſolches gelten! — Denn es iſt ſehr die
Frage, ob Goethe je einen Roman wuͤrde geſchrieben
haben, wenn ein Werk wie der Wilhelm Meiſter bey
ſeiner Nation bereits waͤre vorhanden geweſen? Und
ſehr die Frage, ob er in ſolchem Fall ſich nicht vielleicht
ganz ausſchließlich der dramatiſchen Poeſie gewidmet
haͤtte? —

Was er in ſolchem Fall einer einſeitigen Richtung
alles hervorgebracht und gewirkt haben wuͤrde, iſt gar
nicht abzuſehen; ſo viel iſt jedoch gewiß, daß, ſobald
man aufs Ganze ſieht, kein Verſtaͤndiger wuͤnſchen wird,
daß Goethe eben nicht alles dasjenige moͤchte hervorge¬
bracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal ſeinem
Schoͤpfer gefallen hat.


Goethe ſprach mit hoher Begeiſterung uͤber Me¬
nander
. „Naͤchſt dem Sophocles, ſagte er, kenne
ich keinen, der mir ſo lieb waͤre. Er iſt durchaus rein,
edel, groß und heiter, ſeine Anmuth iſt unerreichbar.
Daß wir ſo wenig von ihm beſitzen, iſt allerdings zu

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[217/0237] ſeine Zeitgenoſſen bereits auf dem Wege zu einem ſol¬ chem Ziele erblickt haͤtte. Ja ſogar von ſeinen vielſeitigen poetiſchen Beſtre¬ bungen moͤchte ſolches gelten! — Denn es iſt ſehr die Frage, ob Goethe je einen Roman wuͤrde geſchrieben haben, wenn ein Werk wie der Wilhelm Meiſter bey ſeiner Nation bereits waͤre vorhanden geweſen? Und ſehr die Frage, ob er in ſolchem Fall ſich nicht vielleicht ganz ausſchließlich der dramatiſchen Poeſie gewidmet haͤtte? — Was er in ſolchem Fall einer einſeitigen Richtung alles hervorgebracht und gewirkt haben wuͤrde, iſt gar nicht abzuſehen; ſo viel iſt jedoch gewiß, daß, ſobald man aufs Ganze ſieht, kein Verſtaͤndiger wuͤnſchen wird, daß Goethe eben nicht alles dasjenige moͤchte hervorge¬ bracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal ſeinem Schoͤpfer gefallen hat. Donnerstag den 12. May 1825. Goethe ſprach mit hoher Begeiſterung uͤber Me¬ nander. „Naͤchſt dem Sophocles, ſagte er, kenne ich keinen, der mir ſo lieb waͤre. Er iſt durchaus rein, edel, groß und heiter, ſeine Anmuth iſt unerreichbar. Daß wir ſo wenig von ihm beſitzen, iſt allerdings zu

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/237>, abgerufen am 25.04.2024.