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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber
sollen Sie mehr hören."


Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat,
fand ich ihn im Lesen von Manzoni's Roman. "Ich
bin schon im dritten Bande, sagte er, indem er das
Buch an die Seite legte, und komme dabey zu vielen
neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom
Trauerspiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut
seyn solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der
Tragödie, sondern auch von mancher anderen Dichtung.
Sie finden es in meinem Gott und die Bajadere,
Sie finden es in jedem guten Lustspiele und zwar bey
der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den sie¬
ben Mädchen in Uniform
, indem wir doch immer
nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Din¬
ger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art seyn,
sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen
in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns
rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden
Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie
z. B. in den Wahlverwandtschaften. Die Angst
aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die han¬
delnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht

weiter ſagen, ich bin noch im erſten Bande, bald aber
ſollen Sie mehr hoͤren.“


Als ich dieſen Abend zu Goethe ins Zimmer trat,
fand ich ihn im Leſen von Manzoni's Roman. „Ich
bin ſchon im dritten Bande, ſagte er, indem er das
Buch an die Seite legte, und komme dabey zu vielen
neuen Gedanken. Sie wiſſen, Ariſtoteles ſagt vom
Trauerſpiele, es muͤſſe Furcht erregen, wenn es gut
ſeyn ſolle. Es gilt dieſes jedoch nicht bloß von der
Tragoͤdie, ſondern auch von mancher anderen Dichtung.
Sie finden es in meinem Gott und die Bajadere,
Sie finden es in jedem guten Luſtſpiele und zwar bey
der Verwickelung, ja Sie finden es ſogar in den ſie¬
ben Maͤdchen in Uniform
, indem wir doch immer
nicht wiſſen koͤnnen, wie der Spaß fuͤr die guten Din¬
ger ablaͤuft. Dieſe Furcht nun kann doppelter Art ſeyn,
ſie kann beſtehen in Angſt, oder ſie kann auch beſtehen
in Bangigkeit. Dieſe letztere Empfindung wird in uns
rege, wenn wir ein moraliſches Übel auf die handelnden
Perſonen heranruͤcken und ſich uͤber ſie verbreiten ſehen, wie
z. B. in den Wahlverwandtſchaften. Die Angſt
aber entſteht im Leſer oder Zuſchauer, wenn die han¬
delnden Perſonen von einer phyſiſchen Gefahr bedroht

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[376/0396] weiter ſagen, ich bin noch im erſten Bande, bald aber ſollen Sie mehr hoͤren.“ Sonnabend den 21. July 1827. Als ich dieſen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Leſen von Manzoni's Roman. „Ich bin ſchon im dritten Bande, ſagte er, indem er das Buch an die Seite legte, und komme dabey zu vielen neuen Gedanken. Sie wiſſen, Ariſtoteles ſagt vom Trauerſpiele, es muͤſſe Furcht erregen, wenn es gut ſeyn ſolle. Es gilt dieſes jedoch nicht bloß von der Tragoͤdie, ſondern auch von mancher anderen Dichtung. Sie finden es in meinem Gott und die Bajadere, Sie finden es in jedem guten Luſtſpiele und zwar bey der Verwickelung, ja Sie finden es ſogar in den ſie¬ ben Maͤdchen in Uniform, indem wir doch immer nicht wiſſen koͤnnen, wie der Spaß fuͤr die guten Din¬ ger ablaͤuft. Dieſe Furcht nun kann doppelter Art ſeyn, ſie kann beſtehen in Angſt, oder ſie kann auch beſtehen in Bangigkeit. Dieſe letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moraliſches Übel auf die handelnden Perſonen heranruͤcken und ſich uͤber ſie verbreiten ſehen, wie z. B. in den Wahlverwandtſchaften. Die Angſt aber entſteht im Leſer oder Zuſchauer, wenn die han¬ delnden Perſonen von einer phyſiſchen Gefahr bedroht

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/396>, abgerufen am 29.03.2024.