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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuh¬
ren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße
geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts
zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen
Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter war dieser
Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein
Stammbuch gegeben. "Was darin für schwaches Zeug
steht, glauben Sie nicht, sagte Goethe. Die Poeten
schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt
ein Lazareth. Alle sprechen sie von dem Leiden und
dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jen¬
seit, und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer
den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das
ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch
eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des
Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt
und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die
jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft
und nur bey der Schwäche ist es ihr gemüthlich und
poetisch zu Sinne."

"Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe
fort, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie
die Lazareth-Poesie nennen; dagegen die echt Tyr¬
täische
diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt,

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuh¬
ren wir ab; der Morgen war ſehr ſchoͤn. Die Straße
geht anfaͤnglich bergan, und da wir in der Natur nichts
zu betrachten fanden, ſo ſprach Goethe von literariſchen
Dingen. Ein bekannter deutſcher Dichter war dieſer
Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen ſein
Stammbuch gegeben. „Was darin fuͤr ſchwaches Zeug
ſteht, glauben Sie nicht, ſagte Goethe. Die Poeten
ſchreiben alle, als waͤren ſie krank und die ganze Welt
ein Lazareth. Alle ſprechen ſie von dem Leiden und
dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jen¬
ſeit, und unzufrieden, wie ſchon alle ſind, hetzt einer
den andern in noch groͤßere Unzufriedenheit hinein. Das
iſt ein wahrer Mißbrauch der Poeſie, die uns doch
eigentlich dazu gegeben iſt, um die kleinen Zwiſte des
Lebens auszugleichen und den Menſchen mit der Welt
und ſeinem Zuſtand zufrieden zu machen. Aber die
jetzige Generation fuͤrchtet ſich vor aller echten Kraft
und nur bey der Schwaͤche iſt es ihr gemuͤthlich und
poetiſch zu Sinne.“

„Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe
fort, um dieſe Herren zu aͤrgern. Ich will ihre Poeſie
die Lazareth-Poeſie nennen; dagegen die echt Tyr¬
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diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder ſingt,

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[382/0402] Montag den 24. September 1827. Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuh¬ ren wir ab; der Morgen war ſehr ſchoͤn. Die Straße geht anfaͤnglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, ſo ſprach Goethe von literariſchen Dingen. Ein bekannter deutſcher Dichter war dieſer Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen ſein Stammbuch gegeben. „Was darin fuͤr ſchwaches Zeug ſteht, glauben Sie nicht, ſagte Goethe. Die Poeten ſchreiben alle, als waͤren ſie krank und die ganze Welt ein Lazareth. Alle ſprechen ſie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jen¬ ſeit, und unzufrieden, wie ſchon alle ſind, hetzt einer den andern in noch groͤßere Unzufriedenheit hinein. Das iſt ein wahrer Mißbrauch der Poeſie, die uns doch eigentlich dazu gegeben iſt, um die kleinen Zwiſte des Lebens auszugleichen und den Menſchen mit der Welt und ſeinem Zuſtand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fuͤrchtet ſich vor aller echten Kraft und nur bey der Schwaͤche iſt es ihr gemuͤthlich und poetiſch zu Sinne.“ „Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe fort, um dieſe Herren zu aͤrgern. Ich will ihre Poeſie die Lazareth-Poeſie nennen; dagegen die echt Tyr¬ taͤiſche diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder ſingt,

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/402>, abgerufen am 29.03.2024.