Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

das ist es, was ich eine Heimath nenne, zu der man
immer gerne wieder zurückkehrt."

Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohlthätigen
Einfluß meines hiesigen Aufenthaltes zu spüren beginne,
daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretischen
Richtungen nach und nach herauskomme und immer
mehr den Werth des augenblicklichen Zustandes zu schäz¬
zen wisse.

"Das müßte schlimm seyn, sagte Goethe, wenn

Sie das nicht sollten. Beharren Sie nur dabey und
halten Sie immer an der Gegenwart fest. Jeder Zu¬
stand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Werth,
denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit."

Es trat eine kleine Pause ein, dann brachte ich das
Gespräch auf Tiefurt und in welcher Art es etwa
darzustellen. Es ist ein mannigfaltiger Gegenstand, sagte
ich, und schwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben.
Am Bequemsten wäre es mir, ihn in Prosa zu be¬
handeln.

"Dazu, sagte Goethe, ist der Gegenstand nicht be¬
deutend genug. Die sogenannte didactisch-beschreibende
Form würde zwar im Ganzen die zu wählende seyn,
allein auch sie ist nicht durchgreifend passend. Am besten
ist es, Sie stellen den Gegenstand in zehn bis zwölf
kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in
mannigfaltigen Versarten und Formen, so wie es die
verschiedenen Seiten und Ansichten verlangen, wodurch

das iſt es, was ich eine Heimath nenne, zu der man
immer gerne wieder zuruͤckkehrt.“

Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohlthaͤtigen
Einfluß meines hieſigen Aufenthaltes zu ſpuͤren beginne,
daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretiſchen
Richtungen nach und nach herauskomme und immer
mehr den Werth des augenblicklichen Zuſtandes zu ſchaͤz¬
zen wiſſe.

„Das muͤßte ſchlimm ſeyn, ſagte Goethe, wenn

Sie das nicht ſollten. Beharren Sie nur dabey und
halten Sie immer an der Gegenwart feſt. Jeder Zu¬
ſtand, ja jeder Augenblick iſt von unendlichem Werth,
denn er iſt der Repraͤſentant einer ganzen Ewigkeit.“

Es trat eine kleine Pauſe ein, dann brachte ich das
Geſpraͤch auf Tiefurt und in welcher Art es etwa
darzuſtellen. Es iſt ein mannigfaltiger Gegenſtand, ſagte
ich, und ſchwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben.
Am Bequemſten waͤre es mir, ihn in Proſa zu be¬
handeln.

„Dazu, ſagte Goethe, iſt der Gegenſtand nicht be¬
deutend genug. Die ſogenannte didactiſch-beſchreibende
Form wuͤrde zwar im Ganzen die zu waͤhlende ſeyn,
allein auch ſie iſt nicht durchgreifend paſſend. Am beſten
iſt es, Sie ſtellen den Gegenſtand in zehn bis zwoͤlf
kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in
mannigfaltigen Versarten und Formen, ſo wie es die
verſchiedenen Seiten und Anſichten verlangen, wodurch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0100" n="80"/>
das i&#x017F;t es, was ich eine Heimath nenne, zu der man<lb/>
immer gerne wieder zuru&#x0364;ckkehrt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohltha&#x0364;tigen<lb/>
Einfluß meines hie&#x017F;igen Aufenthaltes zu &#x017F;pu&#x0364;ren beginne,<lb/>
daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoreti&#x017F;chen<lb/>
Richtungen nach und nach herauskomme und immer<lb/>
mehr den Werth des augenblicklichen Zu&#x017F;tandes zu &#x017F;cha&#x0364;<lb/>
zen wi&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das mu&#x0364;ßte &#x017F;chlimm &#x017F;eyn, &#x017F;agte Goethe, wenn</p><lb/>
          <p>Sie das nicht &#x017F;ollten. Beharren Sie nur dabey und<lb/>
halten Sie immer an der Gegenwart fe&#x017F;t. Jeder Zu¬<lb/>
&#x017F;tand, ja jeder Augenblick i&#x017F;t von unendlichem Werth,<lb/>
denn er i&#x017F;t der Repra&#x0364;&#x017F;entant einer ganzen Ewigkeit.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Es trat eine kleine Pau&#x017F;e ein, dann brachte ich das<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;ch auf <hi rendition="#g">Tiefurt</hi> und in welcher Art es etwa<lb/>
darzu&#x017F;tellen. Es i&#x017F;t ein mannigfaltiger Gegen&#x017F;tand, &#x017F;agte<lb/>
ich, und &#x017F;chwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben.<lb/>
Am Bequem&#x017F;ten wa&#x0364;re es mir, ihn in Pro&#x017F;a zu be¬<lb/>
handeln.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Dazu, &#x017F;agte Goethe, i&#x017F;t der Gegen&#x017F;tand nicht be¬<lb/>
deutend genug. Die &#x017F;ogenannte didacti&#x017F;ch-be&#x017F;chreibende<lb/>
Form wu&#x0364;rde zwar im Ganzen die zu wa&#x0364;hlende &#x017F;eyn,<lb/>
allein auch &#x017F;ie i&#x017F;t nicht durchgreifend pa&#x017F;&#x017F;end. Am be&#x017F;ten<lb/>
i&#x017F;t es, Sie &#x017F;tellen den Gegen&#x017F;tand in zehn bis zwo&#x0364;lf<lb/>
kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in<lb/>
mannigfaltigen Versarten und Formen, &#x017F;o wie es die<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Seiten und An&#x017F;ichten verlangen, wodurch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0100] das iſt es, was ich eine Heimath nenne, zu der man immer gerne wieder zuruͤckkehrt.“ Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohlthaͤtigen Einfluß meines hieſigen Aufenthaltes zu ſpuͤren beginne, daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretiſchen Richtungen nach und nach herauskomme und immer mehr den Werth des augenblicklichen Zuſtandes zu ſchaͤz¬ zen wiſſe. „Das muͤßte ſchlimm ſeyn, ſagte Goethe, wenn Sie das nicht ſollten. Beharren Sie nur dabey und halten Sie immer an der Gegenwart feſt. Jeder Zu¬ ſtand, ja jeder Augenblick iſt von unendlichem Werth, denn er iſt der Repraͤſentant einer ganzen Ewigkeit.“ Es trat eine kleine Pauſe ein, dann brachte ich das Geſpraͤch auf Tiefurt und in welcher Art es etwa darzuſtellen. Es iſt ein mannigfaltiger Gegenſtand, ſagte ich, und ſchwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben. Am Bequemſten waͤre es mir, ihn in Proſa zu be¬ handeln. „Dazu, ſagte Goethe, iſt der Gegenſtand nicht be¬ deutend genug. Die ſogenannte didactiſch-beſchreibende Form wuͤrde zwar im Ganzen die zu waͤhlende ſeyn, allein auch ſie iſt nicht durchgreifend paſſend. Am beſten iſt es, Sie ſtellen den Gegenſtand in zehn bis zwoͤlf kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in mannigfaltigen Versarten und Formen, ſo wie es die verſchiedenen Seiten und Anſichten verlangen, wodurch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/100
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/100>, abgerufen am 25.04.2024.