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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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bey war, setzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er
klagte nun auch gegen mich, daß er seit einigen Näch¬
ten gar nicht geschlafen habe und daß auch zum Essen
gar keine Neigung vorhanden. "Der Winter geht nun
so hin, sagte er, ich kann nichts thun, ich kann nichts
zusammenbringen, der Geist hat gar keine Kraft." Ich
suchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht
so viel an seine Arbeiten zu denken und daß ja dieser
Zustand hoffentlich bald vorüber gehen werde. "Ach,
sagte er darauf, ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe
schon zu viel solcher Zustände durchlebt und habe schon
gelernt zu leiden und zu dulden." Er saß in einem
Schlafrock von weißem Flanell, über seine Kniee und
Füße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. "Ich
werde gar nicht zu Bette gehen, sagte er, ich werde so
auf meinem Stuhl die Nacht sitzen bleiben, denn zum
rechten Schlaf komme ich doch nicht."

Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir seine
liebe Hand und ich ging.

Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um
meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann sehr
bestürzt. Er sagte, er habe sich über seinen Herrn er¬
schrocken; wenn er klage, so sey das ein schlimmes
Zeichen. Auch wären die Füße plötzlich ganz dünne ge¬
worden, die bisher ein wenig geschwollen gewesen. Er
wolle morgen in aller Frühe zum Arzt gehen, um ihm
die schlimmen Zeichen zu melden. Ich suchte ihn zu

bey war, ſetzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er
klagte nun auch gegen mich, daß er ſeit einigen Naͤch¬
ten gar nicht geſchlafen habe und daß auch zum Eſſen
gar keine Neigung vorhanden. „Der Winter geht nun
ſo hin, ſagte er, ich kann nichts thun, ich kann nichts
zuſammenbringen, der Geiſt hat gar keine Kraft.“ Ich
ſuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht
ſo viel an ſeine Arbeiten zu denken und daß ja dieſer
Zuſtand hoffentlich bald voruͤber gehen werde. „Ach,
ſagte er darauf, ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe
ſchon zu viel ſolcher Zuſtaͤnde durchlebt und habe ſchon
gelernt zu leiden und zu dulden.“ Er ſaß in einem
Schlafrock von weißem Flanell, uͤber ſeine Kniee und
Fuͤße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. „Ich
werde gar nicht zu Bette gehen, ſagte er, ich werde ſo
auf meinem Stuhl die Nacht ſitzen bleiben, denn zum
rechten Schlaf komme ich doch nicht.“

Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir ſeine
liebe Hand und ich ging.

Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um
meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann ſehr
beſtuͤrzt. Er ſagte, er habe ſich uͤber ſeinen Herrn er¬
ſchrocken; wenn er klage, ſo ſey das ein ſchlimmes
Zeichen. Auch waͤren die Fuͤße ploͤtzlich ganz duͤnne ge¬
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[93/0113] bey war, ſetzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er klagte nun auch gegen mich, daß er ſeit einigen Naͤch¬ ten gar nicht geſchlafen habe und daß auch zum Eſſen gar keine Neigung vorhanden. „Der Winter geht nun ſo hin, ſagte er, ich kann nichts thun, ich kann nichts zuſammenbringen, der Geiſt hat gar keine Kraft.“ Ich ſuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht ſo viel an ſeine Arbeiten zu denken und daß ja dieſer Zuſtand hoffentlich bald voruͤber gehen werde. „Ach, ſagte er darauf, ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe ſchon zu viel ſolcher Zuſtaͤnde durchlebt und habe ſchon gelernt zu leiden und zu dulden.“ Er ſaß in einem Schlafrock von weißem Flanell, uͤber ſeine Kniee und Fuͤße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. „Ich werde gar nicht zu Bette gehen, ſagte er, ich werde ſo auf meinem Stuhl die Nacht ſitzen bleiben, denn zum rechten Schlaf komme ich doch nicht.“ Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir ſeine liebe Hand und ich ging. Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann ſehr beſtuͤrzt. Er ſagte, er habe ſich uͤber ſeinen Herrn er¬ ſchrocken; wenn er klage, ſo ſey das ein ſchlimmes Zeichen. Auch waͤren die Fuͤße ploͤtzlich ganz duͤnne ge¬ worden, die bisher ein wenig geſchwollen geweſen. Er wolle morgen in aller Fruͤhe zum Arzt gehen, um ihm die ſchlimmen Zeichen zu melden. Ich ſuchte ihn zu

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/113>, abgerufen am 19.04.2024.