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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie
am Tage, überrascht sie zu Nacht.

Ich bemerkte, daß diese bloßen Motive so viel Leben
in mir anregten, als läse ich die Gedichte selbst, und daß
ich daher nach dem Ausgeführten gar kein Verlangen trage.

"Sie haben ganz Recht, sagte Goethe, es ist so.
Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Mo¬
tive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer
haben davon nun vollends keine Ahndung. Dieß Ge¬
dicht ist schön, sagen sie, und denken dabey bloß an
die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Daß
aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in
der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt
niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch
Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durch¬
aus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klin¬
gende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln. Über¬
haupt haben die Dilettanten und besonders die Frauen
von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben
gewöhnlich, wenn sie nur das Technische loshätten, so
hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein
sie sind sehr in der Irre."

Professor Riemer ließ sich melden; Hofrath Rehbein
empfahl sich. Riemer setzte sich zu uns. Das Gespräch
über die Motive der serbischen Liebesgedichte ging fort.

12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet ſie
am Tage, uͤberraſcht ſie zu Nacht.

Ich bemerkte, daß dieſe bloßen Motive ſo viel Leben
in mir anregten, als laͤſe ich die Gedichte ſelbſt, und daß
ich daher nach dem Ausgefuͤhrten gar kein Verlangen trage.

„Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe, es iſt ſo.
Aber Sie ſehen daraus die große Wichtigkeit der Mo¬
tive, die niemand begreifen will. Unſere Frauenzimmer
haben davon nun vollends keine Ahndung. Dieß Ge¬
dicht iſt ſchoͤn, ſagen ſie, und denken dabey bloß an
die Empfindungen, an die Worte, an die Verſe. Daß
aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in
der Situation, in den Motiven beſteht, daran denkt
niemand. Und aus dieſem Grunde werden denn auch
Tauſende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durch¬
aus null iſt, und die bloß durch Empfindungen und klin¬
gende Verſe eine Art von Exiſtenz vorſpiegeln. Über¬
haupt haben die Dilettanten und beſonders die Frauen
von der Poeſie ſehr ſchwache Begriffe. Sie glauben
gewoͤhnlich, wenn ſie nur das Techniſche loshaͤtten, ſo
haͤtten ſie das Weſen und waͤren gemachte Leute; allein
ſie ſind ſehr in der Irre.“

Profeſſor Riemer ließ ſich melden; Hofrath Rehbein
empfahl ſich. Riemer ſetzte ſich zu uns. Das Geſpraͤch
uͤber die Motive der ſerbiſchen Liebesgedichte ging fort.

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[189/0209] 12. Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet ſie am Tage, uͤberraſcht ſie zu Nacht. Ich bemerkte, daß dieſe bloßen Motive ſo viel Leben in mir anregten, als laͤſe ich die Gedichte ſelbſt, und daß ich daher nach dem Ausgefuͤhrten gar kein Verlangen trage. „Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe, es iſt ſo. Aber Sie ſehen daraus die große Wichtigkeit der Mo¬ tive, die niemand begreifen will. Unſere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahndung. Dieß Ge¬ dicht iſt ſchoͤn, ſagen ſie, und denken dabey bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verſe. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven beſteht, daran denkt niemand. Und aus dieſem Grunde werden denn auch Tauſende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durch¬ aus null iſt, und die bloß durch Empfindungen und klin¬ gende Verſe eine Art von Exiſtenz vorſpiegeln. Über¬ haupt haben die Dilettanten und beſonders die Frauen von der Poeſie ſehr ſchwache Begriffe. Sie glauben gewoͤhnlich, wenn ſie nur das Techniſche loshaͤtten, ſo haͤtten ſie das Weſen und waͤren gemachte Leute; allein ſie ſind ſehr in der Irre.“ Profeſſor Riemer ließ ſich melden; Hofrath Rehbein empfahl ſich. Riemer ſetzte ſich zu uns. Das Geſpraͤch uͤber die Motive der ſerbiſchen Liebesgedichte ging fort.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/209>, abgerufen am 23.04.2024.