Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Schlage geworden zu seyn. Er erschien in gleichem
Niveau mit allen vornehmen geistreichen Weltleuten,
von denen er sich durch nichts auszeichnete als durch
sein großes Talent der Darstellung, so daß er denn auch
als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.

Und so empfand ich denn beym Lesen des Beppo:
Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht,
weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen
führte, sondern weil seine höhere poetische Natur zu
schweigen, ja von einer empirischen Denkungsweise aus¬
getrieben zu seyn schien.


Lord Byrons Deformed Transformed hatte ich
nun auch gelesen und sprach mit Goethe darüber nach
Tisch.

"Nicht wahr? sagte er, die ersten Scenen sind groß
und zwar poetisch groß. Das Übrige, wo es ausein¬
ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht
als poetisch rühmen, allein man muß gestehen, daß es
geistreich ist."

Im höchsten Grade, sagte ich; aber es ist keine
Kunst geistreich zu seyn, wenn man vor nichts Respect
hat.

Goethe lachte. "Sie haben nicht ganz Unrecht,

Schlage geworden zu ſeyn. Er erſchien in gleichem
Niveau mit allen vornehmen geiſtreichen Weltleuten,
von denen er ſich durch nichts auszeichnete als durch
ſein großes Talent der Darſtellung, ſo daß er denn auch
als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.

Und ſo empfand ich denn beym Leſen des Beppo:
Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht,
weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen
fuͤhrte, ſondern weil ſeine hoͤhere poetiſche Natur zu
ſchweigen, ja von einer empiriſchen Denkungsweiſe aus¬
getrieben zu ſeyn ſchien.


Lord Byrons Deformed Transformed hatte ich
nun auch geleſen und ſprach mit Goethe daruͤber nach
Tiſch.

„Nicht wahr? ſagte er, die erſten Scenen ſind groß
und zwar poetiſch groß. Das Übrige, wo es ausein¬
ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht
als poetiſch ruͤhmen, allein man muß geſtehen, daß es
geiſtreich iſt.“

Im hoͤchſten Grade, ſagte ich; aber es iſt keine
Kunſt geiſtreich zu ſeyn, wenn man vor nichts Reſpect
hat.

Goethe lachte. „Sie haben nicht ganz Unrecht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0276" n="256"/>
Schlage geworden zu &#x017F;eyn. Er er&#x017F;chien in gleichem<lb/>
Niveau mit allen vornehmen gei&#x017F;treichen Weltleuten,<lb/>
von denen er &#x017F;ich durch nichts auszeichnete als durch<lb/>
&#x017F;ein großes Talent der Dar&#x017F;tellung, &#x017F;o daß er denn auch<lb/>
als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;o empfand ich denn beym Le&#x017F;en des Beppo:<lb/>
Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht,<lb/>
weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen<lb/>
fu&#x0364;hrte, &#x017F;ondern weil &#x017F;eine ho&#x0364;here poeti&#x017F;che Natur zu<lb/>
&#x017F;chweigen, ja von einer empiri&#x017F;chen Denkungswei&#x017F;e aus¬<lb/>
getrieben zu &#x017F;eyn &#x017F;chien.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Mittwoch den 29. November 1826.<lb/></dateline>
          <p>Lord Byrons <hi rendition="#aq">Deformed Transformed</hi> hatte ich<lb/>
nun auch gele&#x017F;en und &#x017F;prach mit Goethe daru&#x0364;ber nach<lb/>
Ti&#x017F;ch.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Nicht wahr? &#x017F;agte er, die er&#x017F;ten Scenen &#x017F;ind groß<lb/>
und zwar poeti&#x017F;ch groß. Das Übrige, wo es ausein¬<lb/>
ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht<lb/>
als poeti&#x017F;ch ru&#x0364;hmen, allein man muß ge&#x017F;tehen, daß es<lb/>
gei&#x017F;treich i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Im ho&#x0364;ch&#x017F;ten Grade, &#x017F;agte ich; aber es i&#x017F;t keine<lb/>
Kun&#x017F;t gei&#x017F;treich zu &#x017F;eyn, wenn man vor nichts Re&#x017F;pect<lb/>
hat.</p><lb/>
          <p>Goethe lachte. &#x201E;Sie haben nicht ganz Unrecht,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[256/0276] Schlage geworden zu ſeyn. Er erſchien in gleichem Niveau mit allen vornehmen geiſtreichen Weltleuten, von denen er ſich durch nichts auszeichnete als durch ſein großes Talent der Darſtellung, ſo daß er denn auch als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte. Und ſo empfand ich denn beym Leſen des Beppo: Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht, weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen fuͤhrte, ſondern weil ſeine hoͤhere poetiſche Natur zu ſchweigen, ja von einer empiriſchen Denkungsweiſe aus¬ getrieben zu ſeyn ſchien. Mittwoch den 29. November 1826. Lord Byrons Deformed Transformed hatte ich nun auch geleſen und ſprach mit Goethe daruͤber nach Tiſch. „Nicht wahr? ſagte er, die erſten Scenen ſind groß und zwar poetiſch groß. Das Übrige, wo es ausein¬ ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht als poetiſch ruͤhmen, allein man muß geſtehen, daß es geiſtreich iſt.“ Im hoͤchſten Grade, ſagte ich; aber es iſt keine Kunſt geiſtreich zu ſeyn, wenn man vor nichts Reſpect hat. Goethe lachte. „Sie haben nicht ganz Unrecht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/276
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/276>, abgerufen am 28.03.2024.