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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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machen, und nicht immer fragen, ob ein Süjet schon be¬
handelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden
und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die
oft barbarisch genug sind, und die dann auch bloß als
Begebenheiten wirken. Aber freylich ein einfaches Süjet
durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen,
erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es."

Vorbeyfahrende Schlitten zogen uns wieder ans
Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber
wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende
Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es
mit der Novelle stehe.

"Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen, sagte er,
aber Eins muß doch noch in der Exposition geschehen.
Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an
der Bude vorbeyreitet; wobey ich denn einige gute Re¬
flexionen über die Furchtbarkeit dieses gewaltigen Thieres
anstellen lassen kann." Dieser Gedanke ist sehr glück¬
lich, sagte ich, denn dadurch entsteht eine Exposition,
die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und noth¬
wendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine
größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe
fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit
zeigte. Dadurch aber, daß er brüllet, läßt er uns we¬
nigstens seine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er sodann
später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses
eine desto größere Wirkung thun.

machen, und nicht immer fragen, ob ein Suͤjet ſchon be¬
handelt worden oder nicht, wo ſie denn immer in Suͤden
und Norden nach unerhoͤrten Begebenheiten ſuchen, die
oft barbariſch genug ſind, und die dann auch bloß als
Begebenheiten wirken. Aber freylich ein einfaches Suͤjet
durch eine meiſterhafte Behandlung zu etwas zu machen,
erfordert Geiſt und großes Talent, und daran fehlt es.“

Vorbeyfahrende Schlitten zogen uns wieder ans
Fenſter; der erwartete Zug von Belvedere war es aber
wieder nicht. Wir ſprachen und ſcherzten unbedeutende
Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es
mit der Novelle ſtehe.

„Ich habe ſie dieſer Tage ruhen laſſen, ſagte er,
aber Eins muß doch noch in der Expoſition geſchehen.
Der Loͤwe naͤmlich muß bruͤllen, wenn die Fuͤrſtin an
der Bude vorbeyreitet; wobey ich denn einige gute Re¬
flexionen uͤber die Furchtbarkeit dieſes gewaltigen Thieres
anſtellen laſſen kann.“ Dieſer Gedanke iſt ſehr gluͤck¬
lich, ſagte ich, denn dadurch entſteht eine Expoſition,
die nicht allein an ſich, an ihrer Stelle, gut und noth¬
wendig iſt, ſondern wodurch auch alles Folgende eine
groͤßere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erſchien der Loͤwe
faſt zu ſanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit
zeigte. Dadurch aber, daß er bruͤllet, laͤßt er uns we¬
nigſtens ſeine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er ſodann
ſpaͤter ſanft der Floͤte des Kindes folgt, ſo wird dieſes
eine deſto groͤßere Wirkung thun.

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[329/0349] machen, und nicht immer fragen, ob ein Suͤjet ſchon be¬ handelt worden oder nicht, wo ſie denn immer in Suͤden und Norden nach unerhoͤrten Begebenheiten ſuchen, die oft barbariſch genug ſind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freylich ein einfaches Suͤjet durch eine meiſterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geiſt und großes Talent, und daran fehlt es.“ Vorbeyfahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenſter; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir ſprachen und ſcherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle ſtehe. „Ich habe ſie dieſer Tage ruhen laſſen, ſagte er, aber Eins muß doch noch in der Expoſition geſchehen. Der Loͤwe naͤmlich muß bruͤllen, wenn die Fuͤrſtin an der Bude vorbeyreitet; wobey ich denn einige gute Re¬ flexionen uͤber die Furchtbarkeit dieſes gewaltigen Thieres anſtellen laſſen kann.“ Dieſer Gedanke iſt ſehr gluͤck¬ lich, ſagte ich, denn dadurch entſteht eine Expoſition, die nicht allein an ſich, an ihrer Stelle, gut und noth¬ wendig iſt, ſondern wodurch auch alles Folgende eine groͤßere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erſchien der Loͤwe faſt zu ſanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er bruͤllet, laͤßt er uns we¬ nigſtens ſeine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er ſodann ſpaͤter ſanft der Floͤte des Kindes folgt, ſo wird dieſes eine deſto groͤßere Wirkung thun.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/349>, abgerufen am 18.04.2024.