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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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zu schreiben ist nicht bequem und räthlich, aber gelegent¬
lich ihn zu ehren und auf ihn im Einzelnen hinzuweisen
werde ich auch in der Folge nicht unterlassen."

Da die Helena einmal zur Sprache gebracht war,
so redete Goethe darüber weiter. "Ich hatte den Schluß,
sagte er, früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn
mir auf verschiedene Weise ausgebildet und einmal auch
recht gut, aber ich will es euch nicht verrathen. Dann
brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Misso¬
lunghi und ich ließ gern alles Übrige fahren. Aber ha¬
ben Sie bemerkt, der Chor fällt bey dem Trauergesang
ganz aus der Rolle; er ist früher und durchgehends
antik gehalten, oder verleugnet doch nie seine Mädchen¬
natur, hier aber wird er mit einem Mal ernst und hoch
reflectirend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht
hat und auch nie hat denken können."

Allerdings, sagte ich, habe ich dieses bemerkt; allein
seitdem ich Rubens Landschaft mit den doppelten Schat¬
ten gesehen, und seitdem der Begriff der Fictionen mir
aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irre machen.
Solche kleine Widersprüche können bey einer dadurch
erreichten höheren Schönheit nicht in Betracht kommen.
Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da
kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die
Mädchen singen.

"Mich soll nur wundern, sagte Goethe lachend,
was die deutschen Critiker dazu sagen werden. Ob sie

zu ſchreiben iſt nicht bequem und raͤthlich, aber gelegent¬
lich ihn zu ehren und auf ihn im Einzelnen hinzuweiſen
werde ich auch in der Folge nicht unterlaſſen.“

Da die Helena einmal zur Sprache gebracht war,
ſo redete Goethe daruͤber weiter. „Ich hatte den Schluß,
ſagte er, fruͤher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn
mir auf verſchiedene Weiſe ausgebildet und einmal auch
recht gut, aber ich will es euch nicht verrathen. Dann
brachte mir die Zeit dieſes mit Lord Byron und Miſſo¬
lunghi und ich ließ gern alles Übrige fahren. Aber ha¬
ben Sie bemerkt, der Chor faͤllt bey dem Trauergeſang
ganz aus der Rolle; er iſt fruͤher und durchgehends
antik gehalten, oder verleugnet doch nie ſeine Maͤdchen¬
natur, hier aber wird er mit einem Mal ernſt und hoch
reflectirend und ſpricht Dinge aus, woran er nie gedacht
hat und auch nie hat denken koͤnnen.“

Allerdings, ſagte ich, habe ich dieſes bemerkt; allein
ſeitdem ich Rubens Landſchaft mit den doppelten Schat¬
ten geſehen, und ſeitdem der Begriff der Fictionen mir
aufgegangen iſt, kann mich dergleichen nicht irre machen.
Solche kleine Widerſpruͤche koͤnnen bey einer dadurch
erreichten hoͤheren Schoͤnheit nicht in Betracht kommen.
Das Lied mußte nun einmal geſungen werden, und da
kein anderer Chor gegenwaͤrtig war, ſo mußten es die
Maͤdchen ſingen.

„Mich ſoll nur wundern, ſagte Goethe lachend,
was die deutſchen Critiker dazu ſagen werden. Ob ſie

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[365/0385] zu ſchreiben iſt nicht bequem und raͤthlich, aber gelegent¬ lich ihn zu ehren und auf ihn im Einzelnen hinzuweiſen werde ich auch in der Folge nicht unterlaſſen.“ Da die Helena einmal zur Sprache gebracht war, ſo redete Goethe daruͤber weiter. „Ich hatte den Schluß, ſagte er, fruͤher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verſchiedene Weiſe ausgebildet und einmal auch recht gut, aber ich will es euch nicht verrathen. Dann brachte mir die Zeit dieſes mit Lord Byron und Miſſo¬ lunghi und ich ließ gern alles Übrige fahren. Aber ha¬ ben Sie bemerkt, der Chor faͤllt bey dem Trauergeſang ganz aus der Rolle; er iſt fruͤher und durchgehends antik gehalten, oder verleugnet doch nie ſeine Maͤdchen¬ natur, hier aber wird er mit einem Mal ernſt und hoch reflectirend und ſpricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken koͤnnen.“ Allerdings, ſagte ich, habe ich dieſes bemerkt; allein ſeitdem ich Rubens Landſchaft mit den doppelten Schat¬ ten geſehen, und ſeitdem der Begriff der Fictionen mir aufgegangen iſt, kann mich dergleichen nicht irre machen. Solche kleine Widerſpruͤche koͤnnen bey einer dadurch erreichten hoͤheren Schoͤnheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal geſungen werden, und da kein anderer Chor gegenwaͤrtig war, ſo mußten es die Maͤdchen ſingen. „Mich ſoll nur wundern, ſagte Goethe lachend, was die deutſchen Critiker dazu ſagen werden. Ob ſie

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/385>, abgerufen am 29.03.2024.