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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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werden Freyheit und Kühnheit genug haben darüber
hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand
im Wege seyn, und sie werden nicht bedenken, daß die
Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand
nicht beykommen kann und soll. Wenn durch die Phan¬
tasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig
problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phan¬
tasie nicht viel. Dieß ist es, wodurch sich die Poesie
von der Prosa unterscheidet, bey welcher der Verstand
immer zu Hause ist und seyn mag und soll."

Ich freute mich dieses bedeutenden Wortes und merkte
es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn
es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne
Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden
über den Ettersberg herüber.


Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps-
Pasten nach dem Stoschischen Cabinet. "Man ist in
Berlin so freundlich gewesen, sagte er, mir diese ganze
Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schö¬
nen Sachen schon dem größten Theile nach, hier aber
sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann
sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und
sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle."

werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber
hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand
im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die
Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand
nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬
taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig
problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬
taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie
von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand
immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“

Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte
es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn
es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne
Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden
uͤber den Ettersberg heruͤber.


Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps-
Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in
Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze
Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬
nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber
ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann
ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und
ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“

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[366/0386] werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬ taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬ taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“ Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden uͤber den Ettersberg heruͤber. Montag Abend den 9. July 1827. Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps- Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬ nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/386>, abgerufen am 19.04.2024.