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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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wendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunst
durchbrechen müssen, zur Auffassung des Individuellen.
Sie müssen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee her¬
auskommen; Sie haben das Talent und sind so weit
vorgeschritten, jetzt müssen Sie. Sie sind dieser Tage
in Tiefurt gewesen, das möchte ich Ihnen zunächst zu
einer solchen Aufgabe machen. Sie können vielleicht
noch drey bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten,
ehe Sie ihm die characteristische Seite abgewinnen und
alle Motive beysammen haben; doch scheuen Sie die
Mühe nicht, studiren Sie alles wohl und stellen Sie es
dar; der Gegenstand verdient es. Ich selbst hätte es
längst gemacht, allein ich kann es nicht, ich habe jene
bedeutenden Zustände selbst mit durchlebt, ich bin zu
sehr darin befangen, so daß die Einzelnheiten sich mir
in zu großer Fülle aufdrängen. Sie aber kommen als
Fremder, und lassen sich vom Castellan das Vergangene
erzählen und sehen nur das Gegenwärtige, Hervorste¬
chende, Bedeutende."

Ich versprach, mich daran zu versuchen, obgleich ich
nicht läugnen könne, daß es eine Aufgabe sey, die mir
sehr fern stehe und die ich für sehr schwierig halte.

"Ich weiß wohl, sagte Goethe, daß es schwer ist,
aber die Auffassung und Darstellung des Besonderen ist
auch das eigentliche Leben der Kunst."

"Und dann: so lange man sich im Allgemeinen hält,
kann es uns jeder nachmachen; aber das Besondere macht

wendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunſt
durchbrechen muͤſſen, zur Auffaſſung des Individuellen.
Sie muͤſſen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee her¬
auskommen; Sie haben das Talent und ſind ſo weit
vorgeſchritten, jetzt muͤſſen Sie. Sie ſind dieſer Tage
in Tiefurt geweſen, das moͤchte ich Ihnen zunaͤchſt zu
einer ſolchen Aufgabe machen. Sie koͤnnen vielleicht
noch drey bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten,
ehe Sie ihm die characteriſtiſche Seite abgewinnen und
alle Motive beyſammen haben; doch ſcheuen Sie die
Muͤhe nicht, ſtudiren Sie alles wohl und ſtellen Sie es
dar; der Gegenſtand verdient es. Ich ſelbſt haͤtte es
laͤngſt gemacht, allein ich kann es nicht, ich habe jene
bedeutenden Zuſtaͤnde ſelbſt mit durchlebt, ich bin zu
ſehr darin befangen, ſo daß die Einzelnheiten ſich mir
in zu großer Fuͤlle aufdraͤngen. Sie aber kommen als
Fremder, und laſſen ſich vom Caſtellan das Vergangene
erzaͤhlen und ſehen nur das Gegenwaͤrtige, Hervorſte¬
chende, Bedeutende.“

Ich verſprach, mich daran zu verſuchen, obgleich ich
nicht laͤugnen koͤnne, daß es eine Aufgabe ſey, die mir
ſehr fern ſtehe und die ich fuͤr ſehr ſchwierig halte.

„Ich weiß wohl, ſagte Goethe, daß es ſchwer iſt,
aber die Auffaſſung und Darſtellung des Beſonderen iſt
auch das eigentliche Leben der Kunſt.“

„Und dann: ſo lange man ſich im Allgemeinen haͤlt,
kann es uns jeder nachmachen; aber das Beſondere macht

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[74/0094] wendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunſt durchbrechen muͤſſen, zur Auffaſſung des Individuellen. Sie muͤſſen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee her¬ auskommen; Sie haben das Talent und ſind ſo weit vorgeſchritten, jetzt muͤſſen Sie. Sie ſind dieſer Tage in Tiefurt geweſen, das moͤchte ich Ihnen zunaͤchſt zu einer ſolchen Aufgabe machen. Sie koͤnnen vielleicht noch drey bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten, ehe Sie ihm die characteriſtiſche Seite abgewinnen und alle Motive beyſammen haben; doch ſcheuen Sie die Muͤhe nicht, ſtudiren Sie alles wohl und ſtellen Sie es dar; der Gegenſtand verdient es. Ich ſelbſt haͤtte es laͤngſt gemacht, allein ich kann es nicht, ich habe jene bedeutenden Zuſtaͤnde ſelbſt mit durchlebt, ich bin zu ſehr darin befangen, ſo daß die Einzelnheiten ſich mir in zu großer Fuͤlle aufdraͤngen. Sie aber kommen als Fremder, und laſſen ſich vom Caſtellan das Vergangene erzaͤhlen und ſehen nur das Gegenwaͤrtige, Hervorſte¬ chende, Bedeutende.“ Ich verſprach, mich daran zu verſuchen, obgleich ich nicht laͤugnen koͤnne, daß es eine Aufgabe ſey, die mir ſehr fern ſtehe und die ich fuͤr ſehr ſchwierig halte. „Ich weiß wohl, ſagte Goethe, daß es ſchwer iſt, aber die Auffaſſung und Darſtellung des Beſonderen iſt auch das eigentliche Leben der Kunſt.“ „Und dann: ſo lange man ſich im Allgemeinen haͤlt, kann es uns jeder nachmachen; aber das Beſondere macht

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/94>, abgerufen am 29.03.2024.