Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

seiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit
er nicht gegen ihn zeugen möchte."

"Sie werden gestehen, daß in diesem Verfahren
eines so großen Characters durchaus etwas Problemati¬
sches liege. Aber wissen Sie wie ich es mir erkläre?
Der Mensch kann seine Jugendeindrücke nicht los wer¬
den, und dieses geht so weit, daß selbst mangelhafte
Dinge, woran er sich in solchen Jahren gewöhnt, und
in deren Umgebung er jene glückliche Zeit gelebt hat,
ihm auch später in dem Grade lieb und werth bleiben,
daß er darüber wie verblendet ist, und er das Fehlerhafte
daran nicht einsieht. So wollte denn Peter der Große
das liebe Amsterdam seiner Jugend in einer Hauptstadt
am Ausflusse der Newa wiederholen; so wie die Hollän¬
der immer versucht worden sind, in ihren entfernten
Besitzungen ein neues Amsterdam wiederholt zu gründen."


Heute, nachdem Goethe über Tisch mir manches gute
Wort gesagt, erquickte ich mich zum Nachtisch noch an
einigen Landschaften von Claude Lorrain. "Die
Sammlung, sagte Goethe, führt den Titel: Liber veri¬
tatis
, sie könnte eben so gut liber naturae et artis hei¬
ßen, denn es findet sich hier die Natur und Kunst auf
der höchsten Stufe und im schönsten Bunde."

ſeiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit
er nicht gegen ihn zeugen moͤchte.“

„Sie werden geſtehen, daß in dieſem Verfahren
eines ſo großen Characters durchaus etwas Problemati¬
ſches liege. Aber wiſſen Sie wie ich es mir erklaͤre?
Der Menſch kann ſeine Jugendeindruͤcke nicht los wer¬
den, und dieſes geht ſo weit, daß ſelbſt mangelhafte
Dinge, woran er ſich in ſolchen Jahren gewoͤhnt, und
in deren Umgebung er jene gluͤckliche Zeit gelebt hat,
ihm auch ſpaͤter in dem Grade lieb und werth bleiben,
daß er daruͤber wie verblendet iſt, und er das Fehlerhafte
daran nicht einſieht. So wollte denn Peter der Große
das liebe Amſterdam ſeiner Jugend in einer Hauptſtadt
am Ausfluſſe der Newa wiederholen; ſo wie die Hollaͤn¬
der immer verſucht worden ſind, in ihren entfernten
Beſitzungen ein neues Amſterdam wiederholt zu gruͤnden.“


Heute, nachdem Goethe uͤber Tiſch mir manches gute
Wort geſagt, erquickte ich mich zum Nachtiſch noch an
einigen Landſchaften von Claude Lorrain. „Die
Sammlung, ſagte Goethe, fuͤhrt den Titel: Liber veri¬
tatis
, ſie koͤnnte eben ſo gut liber naturae et artis hei¬
ßen, denn es findet ſich hier die Natur und Kunſt auf
der hoͤchſten Stufe und im ſchoͤnſten Bunde.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0151" n="141"/>
&#x017F;einer Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit<lb/>
er nicht gegen ihn zeugen mo&#x0364;chte.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sie werden ge&#x017F;tehen, daß in die&#x017F;em Verfahren<lb/>
eines &#x017F;o großen Characters durchaus etwas Problemati¬<lb/>
&#x017F;ches liege. Aber wi&#x017F;&#x017F;en Sie wie ich es mir erkla&#x0364;re?<lb/>
Der Men&#x017F;ch kann &#x017F;eine Jugendeindru&#x0364;cke nicht los wer¬<lb/>
den, und die&#x017F;es geht &#x017F;o weit, daß &#x017F;elb&#x017F;t mangelhafte<lb/>
Dinge, woran er &#x017F;ich in &#x017F;olchen Jahren gewo&#x0364;hnt, und<lb/>
in deren Umgebung er jene glu&#x0364;ckliche Zeit gelebt hat,<lb/>
ihm auch &#x017F;pa&#x0364;ter in dem Grade lieb und werth bleiben,<lb/>
daß er daru&#x0364;ber wie verblendet i&#x017F;t, und er das Fehlerhafte<lb/>
daran nicht ein&#x017F;ieht. So wollte denn Peter der Große<lb/>
das liebe Am&#x017F;terdam &#x017F;einer Jugend in einer Haupt&#x017F;tadt<lb/>
am Ausflu&#x017F;&#x017F;e der Newa wiederholen; &#x017F;o wie die Holla&#x0364;<lb/>
der immer ver&#x017F;ucht worden &#x017F;ind, in ihren entfernten<lb/>
Be&#x017F;itzungen ein neues Am&#x017F;terdam wiederholt zu gru&#x0364;nden.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Montag, den 13. April 1829.<lb/></dateline>
          <p>Heute, nachdem Goethe u&#x0364;ber Ti&#x017F;ch mir manches gute<lb/>
Wort ge&#x017F;agt, erquickte ich mich zum Nachti&#x017F;ch noch an<lb/>
einigen Land&#x017F;chaften von <hi rendition="#g">Claude Lorrain</hi>. &#x201E;Die<lb/>
Sammlung, &#x017F;agte Goethe, fu&#x0364;hrt den Titel: <hi rendition="#aq">Liber veri¬<lb/>
tatis</hi>, &#x017F;ie ko&#x0364;nnte eben &#x017F;o gut <hi rendition="#aq">liber naturae et artis</hi> hei¬<lb/>
ßen, denn es findet &#x017F;ich hier die Natur und Kun&#x017F;t auf<lb/>
der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Stufe und im &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Bunde.&#x201C;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0151] ſeiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit er nicht gegen ihn zeugen moͤchte.“ „Sie werden geſtehen, daß in dieſem Verfahren eines ſo großen Characters durchaus etwas Problemati¬ ſches liege. Aber wiſſen Sie wie ich es mir erklaͤre? Der Menſch kann ſeine Jugendeindruͤcke nicht los wer¬ den, und dieſes geht ſo weit, daß ſelbſt mangelhafte Dinge, woran er ſich in ſolchen Jahren gewoͤhnt, und in deren Umgebung er jene gluͤckliche Zeit gelebt hat, ihm auch ſpaͤter in dem Grade lieb und werth bleiben, daß er daruͤber wie verblendet iſt, und er das Fehlerhafte daran nicht einſieht. So wollte denn Peter der Große das liebe Amſterdam ſeiner Jugend in einer Hauptſtadt am Ausfluſſe der Newa wiederholen; ſo wie die Hollaͤn¬ der immer verſucht worden ſind, in ihren entfernten Beſitzungen ein neues Amſterdam wiederholt zu gruͤnden.“ Montag, den 13. April 1829. Heute, nachdem Goethe uͤber Tiſch mir manches gute Wort geſagt, erquickte ich mich zum Nachtiſch noch an einigen Landſchaften von Claude Lorrain. „Die Sammlung, ſagte Goethe, fuͤhrt den Titel: Liber veri¬ tatis, ſie koͤnnte eben ſo gut liber naturae et artis hei¬ ßen, denn es findet ſich hier die Natur und Kunſt auf der hoͤchſten Stufe und im ſchoͤnſten Bunde.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/151
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/151>, abgerufen am 28.03.2024.