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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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Mit Goethe zu Tisch. Ich bringe ihm seinen
Aufenthalt in Carlsbad vom Jahre 1807, dessen
Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden über
kluge Stellen, die darin als flüchtige Tagesbemerkungen
vorkommen. "Man meint immer, sagte Goethe lachend,
man müsse alt werden um gescheidt zu seyn; im Grunde
aber hat man bey zunehmenden Jahren zu thun, sich
so klug zu erhalten als man gewesen ist. Der Mensch
wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein An¬
derer, aber er kann nicht sagen, daß er ein Besserer
werde, und er kann in gewissen Dingen so gut in sei¬
nem zwanzigsten Jahre Recht haben, als in seinem sech¬
zigsten."

"Man sieht freylich die Welt anders in der Ebene,
anders auf den Höhen des Vorgebirgs, und anders auf
den Gletschern des Urgebirgs. Man sieht auf dem
einen Standpunct ein Stück Welt mehr als auf dem
andern; aber das ist auch alles, und man kann nicht
sagen, daß man auf dem einen mehr Recht hätte, als
auf dem andern. Wenn daher ein Schriftsteller aus
verschiedenen Stufen seines Lebens Denkmale zurückläßt,
so kommt es vorzüglich darauf an, daß er ein angebo¬
renes Fundament und Wohlwollen besitze, daß er auf
jeder Stufe rein gesehen und empfunden, und daß er
ohne Nebenzwecke grade und treu gesagt habe wie er

II. 18

Mit Goethe zu Tiſch. Ich bringe ihm ſeinen
Aufenthalt in Carlsbad vom Jahre 1807, deſſen
Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden uͤber
kluge Stellen, die darin als fluͤchtige Tagesbemerkungen
vorkommen. „Man meint immer, ſagte Goethe lachend,
man muͤſſe alt werden um geſcheidt zu ſeyn; im Grunde
aber hat man bey zunehmenden Jahren zu thun, ſich
ſo klug zu erhalten als man geweſen iſt. Der Menſch
wird in ſeinen verſchiedenen Lebensſtufen wohl ein An¬
derer, aber er kann nicht ſagen, daß er ein Beſſerer
werde, und er kann in gewiſſen Dingen ſo gut in ſei¬
nem zwanzigſten Jahre Recht haben, als in ſeinem ſech¬
zigſten.“

„Man ſieht freylich die Welt anders in der Ebene,
anders auf den Hoͤhen des Vorgebirgs, und anders auf
den Gletſchern des Urgebirgs. Man ſieht auf dem
einen Standpunct ein Stuͤck Welt mehr als auf dem
andern; aber das iſt auch alles, und man kann nicht
ſagen, daß man auf dem einen mehr Recht haͤtte, als
auf dem andern. Wenn daher ein Schriftſteller aus
verſchiedenen Stufen ſeines Lebens Denkmale zuruͤcklaͤßt,
ſo kommt es vorzuͤglich darauf an, daß er ein angebo¬
renes Fundament und Wohlwollen beſitze, daß er auf
jeder Stufe rein geſehen und empfunden, und daß er
ohne Nebenzwecke grade und treu geſagt habe wie er

II. 18
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[273/0283] Donnerstag, den 17. Februar 1831. Mit Goethe zu Tiſch. Ich bringe ihm ſeinen Aufenthalt in Carlsbad vom Jahre 1807, deſſen Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden uͤber kluge Stellen, die darin als fluͤchtige Tagesbemerkungen vorkommen. „Man meint immer, ſagte Goethe lachend, man muͤſſe alt werden um geſcheidt zu ſeyn; im Grunde aber hat man bey zunehmenden Jahren zu thun, ſich ſo klug zu erhalten als man geweſen iſt. Der Menſch wird in ſeinen verſchiedenen Lebensſtufen wohl ein An¬ derer, aber er kann nicht ſagen, daß er ein Beſſerer werde, und er kann in gewiſſen Dingen ſo gut in ſei¬ nem zwanzigſten Jahre Recht haben, als in ſeinem ſech¬ zigſten.“ „Man ſieht freylich die Welt anders in der Ebene, anders auf den Hoͤhen des Vorgebirgs, und anders auf den Gletſchern des Urgebirgs. Man ſieht auf dem einen Standpunct ein Stuͤck Welt mehr als auf dem andern; aber das iſt auch alles, und man kann nicht ſagen, daß man auf dem einen mehr Recht haͤtte, als auf dem andern. Wenn daher ein Schriftſteller aus verſchiedenen Stufen ſeines Lebens Denkmale zuruͤcklaͤßt, ſo kommt es vorzuͤglich darauf an, daß er ein angebo¬ renes Fundament und Wohlwollen beſitze, daß er auf jeder Stufe rein geſehen und empfunden, und daß er ohne Nebenzwecke grade und treu geſagt habe wie er II. 18

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/283>, abgerufen am 18.04.2024.