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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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Mit Goethe zu Tisch in mancherley Unterhaltungen.
Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und
er vergleicht sie den Stengelblättern einer Pflanze, die
nach und nach von selber abfallen, und wobey man es
nicht so genau und so strenge zu nehmen brauche.

"Der Mensch, sagte er, hat verschiedene Stufen,
die er durchlaufen muß, und jede Stufe führt ihre be¬
sonderen Tugenden und Fehler mit sich, die in der
Epoche, wo sie kommen, durchaus als naturgemäß zu
betrachten und gewissermaßen recht sind. Auf der fol¬
genden Stufe ist er wieder ein Anderer, von den frühe¬
ren Tugenden und Fehlern ist keine Spur mehr, aber
andere Arten und Unarten sind an deren Stelle getre¬
ten. Und so geht es fort, bis zu der letzten Verwand¬
lung, von der wir noch nicht wissen wie wir seyn
werden."

Zum Nachtisch las Goethe mir sodann einige seit
1775 sich erhaltene Fragmente von Hanswursts Hoch¬
zeit. Kilian Brustfleck eröffnet das Stück mit einem
Monolog, worin er sich beklagt, daß ihm Hanswursts
Erziehung, trotz aller Mühe, so schlecht geglückt sey.
Die Scene, so wie alles Übrige, war ganz im Tone
des Faust geschrieben. Eine gewaltige productive Kraft
bis zum Übermuth sprach sich in jeder Zeile aus, und
ich bedauerte bloß, daß es so über alle Grenzen hinaus¬

Mit Goethe zu Tiſch in mancherley Unterhaltungen.
Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und
er vergleicht ſie den Stengelblaͤttern einer Pflanze, die
nach und nach von ſelber abfallen, und wobey man es
nicht ſo genau und ſo ſtrenge zu nehmen brauche.

„Der Menſch, ſagte er, hat verſchiedene Stufen,
die er durchlaufen muß, und jede Stufe fuͤhrt ihre be¬
ſonderen Tugenden und Fehler mit ſich, die in der
Epoche, wo ſie kommen, durchaus als naturgemaͤß zu
betrachten und gewiſſermaßen recht ſind. Auf der fol¬
genden Stufe iſt er wieder ein Anderer, von den fruͤhe¬
ren Tugenden und Fehlern iſt keine Spur mehr, aber
andere Arten und Unarten ſind an deren Stelle getre¬
ten. Und ſo geht es fort, bis zu der letzten Verwand¬
lung, von der wir noch nicht wiſſen wie wir ſeyn
werden.“

Zum Nachtiſch las Goethe mir ſodann einige ſeit
1775 ſich erhaltene Fragmente von Hanswurſts Hoch¬
zeit. Kilian Bruſtfleck eroͤffnet das Stuͤck mit einem
Monolog, worin er ſich beklagt, daß ihm Hanswurſts
Erziehung, trotz aller Muͤhe, ſo ſchlecht gegluͤckt ſey.
Die Scene, ſo wie alles Übrige, war ganz im Tone
des Fauſt geſchrieben. Eine gewaltige productive Kraft
bis zum Übermuth ſprach ſich in jeder Zeile aus, und
ich bedauerte bloß, daß es ſo uͤber alle Grenzen hinaus¬

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[300/0310] Sonntag, den 6. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tiſch in mancherley Unterhaltungen. Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und er vergleicht ſie den Stengelblaͤttern einer Pflanze, die nach und nach von ſelber abfallen, und wobey man es nicht ſo genau und ſo ſtrenge zu nehmen brauche. „Der Menſch, ſagte er, hat verſchiedene Stufen, die er durchlaufen muß, und jede Stufe fuͤhrt ihre be¬ ſonderen Tugenden und Fehler mit ſich, die in der Epoche, wo ſie kommen, durchaus als naturgemaͤß zu betrachten und gewiſſermaßen recht ſind. Auf der fol¬ genden Stufe iſt er wieder ein Anderer, von den fruͤhe¬ ren Tugenden und Fehlern iſt keine Spur mehr, aber andere Arten und Unarten ſind an deren Stelle getre¬ ten. Und ſo geht es fort, bis zu der letzten Verwand¬ lung, von der wir noch nicht wiſſen wie wir ſeyn werden.“ Zum Nachtiſch las Goethe mir ſodann einige ſeit 1775 ſich erhaltene Fragmente von Hanswurſts Hoch¬ zeit. Kilian Bruſtfleck eroͤffnet das Stuͤck mit einem Monolog, worin er ſich beklagt, daß ihm Hanswurſts Erziehung, trotz aller Muͤhe, ſo ſchlecht gegluͤckt ſey. Die Scene, ſo wie alles Übrige, war ganz im Tone des Fauſt geſchrieben. Eine gewaltige productive Kraft bis zum Übermuth ſprach ſich in jeder Zeile aus, und ich bedauerte bloß, daß es ſo uͤber alle Grenzen hinaus¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/310>, abgerufen am 18.04.2024.