Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

seyn, sagte Goethe, denn es steht in der Claudina
von Villa Bella
, wo es der Rugantino singt. Ich
habe es jedoch dort zerstückelt, so daß man darüber
hinauslieset und niemand merkt was es heißen will.
Ich dächte aber, es wäre gut! Es drückt den Zustand
artig aus und bleibt hübsch im Gleichniß; es ist in
Art der Anakreontischen. Eigentlich hätten wir dieses
Lied, und ähnliche andere aus meinen Opern, unter den
Gedichten wieder sollen abdrucken lassen, damit der
Componist doch die Lieder beysammen hätte." Ich fand
dieses gut und vernünftig, und merkte es mir für
die Folge.

Goethe hatte das Gedicht sehr schön gelesen; ich
brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm
schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse:

Du lärmst so ungeschickt, ich fürchte das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte.
sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin.

Er erzählte mir sodann von einem neu erschienenen
Buch über Napoleon, das von einem Jugendbekann¬
ten des Helden verfaßt sey, und worin man die merk¬
würdigsten Aufschlüsse erhalte. "Das Buch, sagte er,
ist ganz nüchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber
man sieht dabey, welchen großartigen Character das
Wahre hat, wenn es einer zu sagen wagt."

Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters
erzählte mir Goethe. "Es ist ein pathologisches Product,

ſeyn, ſagte Goethe, denn es ſteht in der Claudina
von Villa Bella
, wo es der Rugantino ſingt. Ich
habe es jedoch dort zerſtuͤckelt, ſo daß man daruͤber
hinauslieſet und niemand merkt was es heißen will.
Ich daͤchte aber, es waͤre gut! Es druͤckt den Zuſtand
artig aus und bleibt huͤbſch im Gleichniß; es iſt in
Art der Anakreontiſchen. Eigentlich haͤtten wir dieſes
Lied, und aͤhnliche andere aus meinen Opern, unter den
Gedichten wieder ſollen abdrucken laſſen, damit der
Componiſt doch die Lieder beyſammen haͤtte.“ Ich fand
dieſes gut und vernuͤnftig, und merkte es mir fuͤr
die Folge.

Goethe hatte das Gedicht ſehr ſchoͤn geleſen; ich
brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm
ſchien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verſe:

Du laͤrmſt ſo ungeſchickt, ich fuͤrchte das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und raͤumet die Huͤtte.
ſprach er noch mitunter wie im Traume vor ſich hin.

Er erzaͤhlte mir ſodann von einem neu erſchienenen
Buch uͤber Napoleon, das von einem Jugendbekann¬
ten des Helden verfaßt ſey, und worin man die merk¬
wuͤrdigſten Aufſchluͤſſe erhalte. „Das Buch, ſagte er,
iſt ganz nuͤchtern, ohne Enthuſiasmus geſchrieben, aber
man ſieht dabey, welchen großartigen Character das
Wahre hat, wenn es einer zu ſagen wagt.“

Auch von einem Trauerſpiele eines jungen Dichters
erzaͤhlte mir Goethe. „Es iſt ein pathologiſches Product,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0112" n="102"/>
&#x017F;eyn, &#x017F;agte Goethe, denn es &#x017F;teht in der <hi rendition="#g">Claudina<lb/>
von Villa Bella</hi>, wo es der Rugantino &#x017F;ingt. Ich<lb/>
habe es jedoch dort zer&#x017F;tu&#x0364;ckelt, &#x017F;o daß man daru&#x0364;ber<lb/>
hinauslie&#x017F;et und niemand merkt was es heißen will.<lb/>
Ich da&#x0364;chte aber, es wa&#x0364;re gut! Es dru&#x0364;ckt den Zu&#x017F;tand<lb/>
artig aus und bleibt hu&#x0364;b&#x017F;ch im Gleichniß; es i&#x017F;t in<lb/>
Art der Anakreonti&#x017F;chen. Eigentlich ha&#x0364;tten wir die&#x017F;es<lb/>
Lied, und a&#x0364;hnliche andere aus meinen Opern, unter den<lb/>
Gedichten wieder &#x017F;ollen abdrucken la&#x017F;&#x017F;en, damit der<lb/>
Componi&#x017F;t doch die Lieder bey&#x017F;ammen ha&#x0364;tte.&#x201C; Ich fand<lb/>
die&#x017F;es gut und vernu&#x0364;nftig, und merkte es mir fu&#x0364;r<lb/>
die Folge.</p><lb/>
          <p>Goethe hatte das Gedicht &#x017F;ehr &#x017F;cho&#x0364;n gele&#x017F;en; ich<lb/>
brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm<lb/>
&#x017F;chien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Ver&#x017F;e:<lb/><lg type="poem"><l>Du la&#x0364;rm&#x017F;t &#x017F;o unge&#x017F;chickt, ich fu&#x0364;rchte das Seelchen</l><lb/><l>Entflieht, um dir zu entfliehn, und ra&#x0364;umet die Hu&#x0364;tte.</l><lb/></lg> &#x017F;prach er noch mitunter wie im Traume vor &#x017F;ich hin.</p><lb/>
          <p>Er erza&#x0364;hlte mir &#x017F;odann von einem neu er&#x017F;chienenen<lb/>
Buch u&#x0364;ber <hi rendition="#g">Napoleon</hi>, das von einem Jugendbekann¬<lb/>
ten des Helden verfaßt &#x017F;ey, und worin man die merk¬<lb/>
wu&#x0364;rdig&#x017F;ten Auf&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e erhalte. &#x201E;Das Buch, &#x017F;agte er,<lb/>
i&#x017F;t ganz nu&#x0364;chtern, ohne Enthu&#x017F;iasmus ge&#x017F;chrieben, aber<lb/>
man &#x017F;ieht dabey, welchen großartigen Character das<lb/>
Wahre hat, wenn es einer zu &#x017F;agen wagt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Auch von einem Trauer&#x017F;piele eines jungen Dichters<lb/>
erza&#x0364;hlte mir Goethe. &#x201E;Es i&#x017F;t ein pathologi&#x017F;ches Product,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0112] ſeyn, ſagte Goethe, denn es ſteht in der Claudina von Villa Bella, wo es der Rugantino ſingt. Ich habe es jedoch dort zerſtuͤckelt, ſo daß man daruͤber hinauslieſet und niemand merkt was es heißen will. Ich daͤchte aber, es waͤre gut! Es druͤckt den Zuſtand artig aus und bleibt huͤbſch im Gleichniß; es iſt in Art der Anakreontiſchen. Eigentlich haͤtten wir dieſes Lied, und aͤhnliche andere aus meinen Opern, unter den Gedichten wieder ſollen abdrucken laſſen, damit der Componiſt doch die Lieder beyſammen haͤtte.“ Ich fand dieſes gut und vernuͤnftig, und merkte es mir fuͤr die Folge. Goethe hatte das Gedicht ſehr ſchoͤn geleſen; ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm ſchien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verſe: Du laͤrmſt ſo ungeſchickt, ich fuͤrchte das Seelchen Entflieht, um dir zu entfliehn, und raͤumet die Huͤtte. ſprach er noch mitunter wie im Traume vor ſich hin. Er erzaͤhlte mir ſodann von einem neu erſchienenen Buch uͤber Napoleon, das von einem Jugendbekann¬ ten des Helden verfaßt ſey, und worin man die merk¬ wuͤrdigſten Aufſchluͤſſe erhalte. „Das Buch, ſagte er, iſt ganz nuͤchtern, ohne Enthuſiasmus geſchrieben, aber man ſieht dabey, welchen großartigen Character das Wahre hat, wenn es einer zu ſagen wagt.“ Auch von einem Trauerſpiele eines jungen Dichters erzaͤhlte mir Goethe. „Es iſt ein pathologiſches Product,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/112
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/112>, abgerufen am 18.04.2024.