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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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hundert. Er besitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie
er mir bey keinem Geschichtsschreiber größer vorgekom¬
men. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in sei¬
nen Augen die größte Wichtigkeit, als Quellen bedeu¬
tender Ereignisse. Welchen Einfluß z. B. das Vorwal¬
ten gewisser religiöser Meinungen auf die Geschichte
gehabt, wie die Lehre von der Erbsünde, von der
Gnade, von guten Werken, gewissen Epochen eine
solche und eine andre Gestalt gegeben, sehen wir deut¬
lich hergeleitet und nachgewiesen. Auch das römische
Recht, als ein fortlebendes, das, gleich einer untertau¬
chenden Ente, sich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber
nie ganz verloren geht, und immer einmal wieder leben¬
dig hervortritt, sehen wir sehr gut behandelt, bey wel¬
cher Gelegenheit denn auch unserm trefflichen Savigny
volle Anerkennung zu Theil wird."

"Wie Guizot von den Einflüssen redet, welche die
Gallier in früher Zeit von fremden Nationen empfan¬
gen, ist mir besonders merkwürdig gewesen, was er von
den Deutschen sagt. ""Die Germanen, sagt er, brach¬
ten uns die Idee der persönlichen Freyheit, welche die¬
sem Volke vor allem eigen war."" Ist das nicht sehr
artig, und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht
diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns
wirksam? -- Die Reformation kam aus dieser Quelle,
wie die Burschenverschwörung auf der Wartburg, Ge-
scheidtes wie Dummes. Auch das Buntschäckige unserer

hundert. Er beſitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie
er mir bey keinem Geſchichtsſchreiber groͤßer vorgekom¬
men. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in ſei¬
nen Augen die groͤßte Wichtigkeit, als Quellen bedeu¬
tender Ereigniſſe. Welchen Einfluß z. B. das Vorwal¬
ten gewiſſer religioͤſer Meinungen auf die Geſchichte
gehabt, wie die Lehre von der Erbſuͤnde, von der
Gnade, von guten Werken, gewiſſen Epochen eine
ſolche und eine andre Geſtalt gegeben, ſehen wir deut¬
lich hergeleitet und nachgewieſen. Auch das roͤmiſche
Recht, als ein fortlebendes, das, gleich einer untertau¬
chenden Ente, ſich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber
nie ganz verloren geht, und immer einmal wieder leben¬
dig hervortritt, ſehen wir ſehr gut behandelt, bey wel¬
cher Gelegenheit denn auch unſerm trefflichen Savigny
volle Anerkennung zu Theil wird.“

„Wie Guizot von den Einfluͤſſen redet, welche die
Gallier in fruͤher Zeit von fremden Nationen empfan¬
gen, iſt mir beſonders merkwuͤrdig geweſen, was er von
den Deutſchen ſagt. „„Die Germanen, ſagt er, brach¬
ten uns die Idee der perſoͤnlichen Freyheit, welche die¬
ſem Volke vor allem eigen war.““ Iſt das nicht ſehr
artig, und hat er nicht vollkommen recht, und iſt nicht
dieſe Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns
wirkſam? — Die Reformation kam aus dieſer Quelle,
wie die Burſchenverſchwoͤrung auf der Wartburg, Ge-
ſcheidtes wie Dummes. Auch das Buntſchaͤckige unſerer

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[109/0119] hundert. Er beſitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie er mir bey keinem Geſchichtsſchreiber groͤßer vorgekom¬ men. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in ſei¬ nen Augen die groͤßte Wichtigkeit, als Quellen bedeu¬ tender Ereigniſſe. Welchen Einfluß z. B. das Vorwal¬ ten gewiſſer religioͤſer Meinungen auf die Geſchichte gehabt, wie die Lehre von der Erbſuͤnde, von der Gnade, von guten Werken, gewiſſen Epochen eine ſolche und eine andre Geſtalt gegeben, ſehen wir deut¬ lich hergeleitet und nachgewieſen. Auch das roͤmiſche Recht, als ein fortlebendes, das, gleich einer untertau¬ chenden Ente, ſich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht, und immer einmal wieder leben¬ dig hervortritt, ſehen wir ſehr gut behandelt, bey wel¬ cher Gelegenheit denn auch unſerm trefflichen Savigny volle Anerkennung zu Theil wird.“ „Wie Guizot von den Einfluͤſſen redet, welche die Gallier in fruͤher Zeit von fremden Nationen empfan¬ gen, iſt mir beſonders merkwuͤrdig geweſen, was er von den Deutſchen ſagt. „„Die Germanen, ſagt er, brach¬ ten uns die Idee der perſoͤnlichen Freyheit, welche die¬ ſem Volke vor allem eigen war.““ Iſt das nicht ſehr artig, und hat er nicht vollkommen recht, und iſt nicht dieſe Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirkſam? — Die Reformation kam aus dieſer Quelle, wie die Burſchenverſchwoͤrung auf der Wartburg, Ge- ſcheidtes wie Dummes. Auch das Buntſchaͤckige unſerer

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/119>, abgerufen am 25.04.2024.