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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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tig mit seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln am
Tisch sitzen und seine Suppe essen zu sehen, als ob
eben nichts passirt wäre. Wir sprachen ganz heiter fort
über gleichgültige Dinge; nun fingen alle Glocken der
Stadt an zu läuten; Frau v. Goethe blickte mich an
und wir redeten lauter, damit die Töne der Todes-
Glocken sein Inneres nicht berühren und erschüttern
möchten; denn wir dachten er empfände wie wir. Er
empfand aber nicht wie wir, es stand in seinem Innern
gänzlich anders. Er saß vor uns, gleich einem Wesen
höherer Art, von irdischen Leiden unberührbar. Hofrath
Vogel ließ sich melden; er setzte sich zu uns und erzählte
die einzelnen Umstände von dem Hinscheiden der hohen
Verewigten, welches Goethe in seiner bisherigen voll¬
kommensten Ruhe und Fassung aufnahm. Vogel ging
wieder und wir setzten unser Mittagsessen und Gespräche
fort. Auch vom Chaos war viel die Rede, und Goethe
pries die Betrachtungen über das Spiel, in der
letzten Nummer, als ganz vorzüglich. Als Frau v.
Goethe mit ihren Söhnen hinaufgegangen war blieb ich
mit Goethe allein. Er erzählte mir von seiner classi¬
schen Walpurgisnacht, daß er damit jeden Tag weiter
komme, und daß ihm wunderbare Dinge über die Er¬
wartung gelängen. Dann zeigte er mir einen Brief
des Königs von Bayern, den er heute erhalten und
den ich mit großem Interesse las. Die edle treue Ge¬
sinnung des Königs sprach sich in jeder Zeile aus, und

tig mit ſeiner Schwiegertochter und ſeinen Enkeln am
Tiſch ſitzen und ſeine Suppe eſſen zu ſehen, als ob
eben nichts paſſirt waͤre. Wir ſprachen ganz heiter fort
uͤber gleichguͤltige Dinge; nun fingen alle Glocken der
Stadt an zu laͤuten; Frau v. Goethe blickte mich an
und wir redeten lauter, damit die Toͤne der Todes-
Glocken ſein Inneres nicht beruͤhren und erſchuͤttern
moͤchten; denn wir dachten er empfaͤnde wie wir. Er
empfand aber nicht wie wir, es ſtand in ſeinem Innern
gaͤnzlich anders. Er ſaß vor uns, gleich einem Weſen
hoͤherer Art, von irdiſchen Leiden unberuͤhrbar. Hofrath
Vogel ließ ſich melden; er ſetzte ſich zu uns und erzaͤhlte
die einzelnen Umſtaͤnde von dem Hinſcheiden der hohen
Verewigten, welches Goethe in ſeiner bisherigen voll¬
kommenſten Ruhe und Faſſung aufnahm. Vogel ging
wieder und wir ſetzten unſer Mittagseſſen und Geſpraͤche
fort. Auch vom Chaos war viel die Rede, und Goethe
pries die Betrachtungen uͤber das Spiel, in der
letzten Nummer, als ganz vorzuͤglich. Als Frau v.
Goethe mit ihren Soͤhnen hinaufgegangen war blieb ich
mit Goethe allein. Er erzaͤhlte mir von ſeiner claſſi¬
ſchen Walpurgisnacht, daß er damit jeden Tag weiter
komme, und daß ihm wunderbare Dinge uͤber die Er¬
wartung gelaͤngen. Dann zeigte er mir einen Brief
des Koͤnigs von Bayern, den er heute erhalten und
den ich mit großem Intereſſe las. Die edle treue Ge¬
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[185/0195] tig mit ſeiner Schwiegertochter und ſeinen Enkeln am Tiſch ſitzen und ſeine Suppe eſſen zu ſehen, als ob eben nichts paſſirt waͤre. Wir ſprachen ganz heiter fort uͤber gleichguͤltige Dinge; nun fingen alle Glocken der Stadt an zu laͤuten; Frau v. Goethe blickte mich an und wir redeten lauter, damit die Toͤne der Todes- Glocken ſein Inneres nicht beruͤhren und erſchuͤttern moͤchten; denn wir dachten er empfaͤnde wie wir. Er empfand aber nicht wie wir, es ſtand in ſeinem Innern gaͤnzlich anders. Er ſaß vor uns, gleich einem Weſen hoͤherer Art, von irdiſchen Leiden unberuͤhrbar. Hofrath Vogel ließ ſich melden; er ſetzte ſich zu uns und erzaͤhlte die einzelnen Umſtaͤnde von dem Hinſcheiden der hohen Verewigten, welches Goethe in ſeiner bisherigen voll¬ kommenſten Ruhe und Faſſung aufnahm. Vogel ging wieder und wir ſetzten unſer Mittagseſſen und Geſpraͤche fort. Auch vom Chaos war viel die Rede, und Goethe pries die Betrachtungen uͤber das Spiel, in der letzten Nummer, als ganz vorzuͤglich. Als Frau v. Goethe mit ihren Soͤhnen hinaufgegangen war blieb ich mit Goethe allein. Er erzaͤhlte mir von ſeiner claſſi¬ ſchen Walpurgisnacht, daß er damit jeden Tag weiter komme, und daß ihm wunderbare Dinge uͤber die Er¬ wartung gelaͤngen. Dann zeigte er mir einen Brief des Koͤnigs von Bayern, den er heute erhalten und den ich mit großem Intereſſe las. Die edle treue Ge¬ ſinnung des Koͤnigs ſprach ſich in jeder Zeile aus, und

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/195>, abgerufen am 29.03.2024.