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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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"Zu dieser letzteren Lesart, sagte Goethe, habe ich
mich durch Göttling verleiten lassen. Priester Pro¬
perz klingt zudem schlecht, und ich bin daher für die
frühere Lesart."

So, sagte ich, stand auch in dem Manuscript Ihrer
Helena, daß Theseus sie entführet als ein zehenjäh¬
rig
schlankes Reh. Auf Göttling's Einwendungen da¬
gegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjäh¬
rig
schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl für
das schöne Mädchen, als für die Zwillingsbrüder Castor
und Pollux, die sie befreyen. Das Ganze liegt ja so
in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann wie alt sie
eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so
versatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am
bequemsten und hübschesten ist.

"Sie haben Recht, sagte Goethe; ich bin auch dafür,
daß sie zehn Jahr alt gewesen sey als Theseus sie entfüh¬
ret, und ich habe daher auch später geschrieben: vom
zehnten
Jahr an hat sie nichts getaugt. In der künf¬
tigen Ausgabe mögt Ihr daher aus dem siebenjährigen
Reh immer wieder ein zehnjähriges machen."

Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwey frische Hefte
von Neureuther, nach seinen Balladen, und wir be¬
wunderten vor allen den freyen heitern Geist des lie¬
benswürdigen Künstlers.


„Zu dieſer letzteren Lesart, ſagte Goethe, habe ich
mich durch Goͤttling verleiten laſſen. Prieſter Pro¬
perz klingt zudem ſchlecht, und ich bin daher fuͤr die
fruͤhere Lesart.“

So, ſagte ich, ſtand auch in dem Manuſcript Ihrer
Helena, daß Theſeus ſie entfuͤhret als ein zehenjaͤh¬
rig
ſchlankes Reh. Auf Goͤttling's Einwendungen da¬
gegen haben Sie nun drucken laſſen: ein ſiebenjaͤh¬
rig
ſchlankes Reh, welches gar zu jung iſt, ſowohl fuͤr
das ſchoͤne Maͤdchen, als fuͤr die Zwillingsbruͤder Caſtor
und Pollux, die ſie befreyen. Das Ganze liegt ja ſo
in der Fabelzeit, daß niemand ſagen kann wie alt ſie
eigentlich war, und zudem iſt die ganze Mythologie ſo
verſatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am
bequemſten und huͤbſcheſten iſt.

„Sie haben Recht, ſagte Goethe; ich bin auch dafuͤr,
daß ſie zehn Jahr alt geweſen ſey als Theſeus ſie entfuͤh¬
ret, und ich habe daher auch ſpaͤter geſchrieben: vom
zehnten
Jahr an hat ſie nichts getaugt. In der kuͤnf¬
tigen Ausgabe moͤgt Ihr daher aus dem ſiebenjaͤhrigen
Reh immer wieder ein zehnjaͤhriges machen.“

Zum Nachtiſch zeigte Goethe mir zwey friſche Hefte
von Neureuther, nach ſeinen Balladen, und wir be¬
wunderten vor allen den freyen heitern Geiſt des lie¬
benswuͤrdigen Kuͤnſtlers.


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[201/0211] „Zu dieſer letzteren Lesart, ſagte Goethe, habe ich mich durch Goͤttling verleiten laſſen. Prieſter Pro¬ perz klingt zudem ſchlecht, und ich bin daher fuͤr die fruͤhere Lesart.“ So, ſagte ich, ſtand auch in dem Manuſcript Ihrer Helena, daß Theſeus ſie entfuͤhret als ein zehenjaͤh¬ rig ſchlankes Reh. Auf Goͤttling's Einwendungen da¬ gegen haben Sie nun drucken laſſen: ein ſiebenjaͤh¬ rig ſchlankes Reh, welches gar zu jung iſt, ſowohl fuͤr das ſchoͤne Maͤdchen, als fuͤr die Zwillingsbruͤder Caſtor und Pollux, die ſie befreyen. Das Ganze liegt ja ſo in der Fabelzeit, daß niemand ſagen kann wie alt ſie eigentlich war, und zudem iſt die ganze Mythologie ſo verſatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am bequemſten und huͤbſcheſten iſt. „Sie haben Recht, ſagte Goethe; ich bin auch dafuͤr, daß ſie zehn Jahr alt geweſen ſey als Theſeus ſie entfuͤh¬ ret, und ich habe daher auch ſpaͤter geſchrieben: vom zehnten Jahr an hat ſie nichts getaugt. In der kuͤnf¬ tigen Ausgabe moͤgt Ihr daher aus dem ſiebenjaͤhrigen Reh immer wieder ein zehnjaͤhriges machen.“ Zum Nachtiſch zeigte Goethe mir zwey friſche Hefte von Neureuther, nach ſeinen Balladen, und wir be¬ wunderten vor allen den freyen heitern Geiſt des lie¬ benswuͤrdigen Kuͤnſtlers.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/211>, abgerufen am 24.04.2024.