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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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unterstreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewisse
zudringliche Kraft, die in früheren Jahrhunderten sich
überall aussprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar
nicht bloß in Werken der Malerey, sondern auch in
allen übrigen Künsten. Es lebt ein schwächeres Geschlecht,
von dem sich nicht sagen läßt ob es so ist durch die Zeu¬
gung, oder durch eine schwächere Erziehung und Nahrung."

Man sieht aber dabey, sagte ich, wie viel in den
Künsten auf eine große Persönlichkeit ankommt, die
freylich in früheren Jahrhunderten besonders zu Hause
war. Wenn man in Venedig vor den Werken von
Titian und Paul Veronese steht, so empfindet man
den gewaltigen Geist dieser Männer, in ihrem ersten
Apercü von dem Gegenstande, wie in der letzten Aus¬
führung. Ihr großes energisches Empfinden hat die
Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und diese
höhere Gewalt der künstlerischen Persönlichkeit dehnet
unser eigenes Wesen aus und erhebt uns über uns
selbst wenn wir solche Werke betrachten. Dieser männ¬
liche Geist, von dem Sie sagen, findet sich auch ganz
besonders in den Rubensschen Landschaften. Es sind
freylich auch nur Bäume, Erdboden, Wasser, Felsen
und Wolken, allein seine kräftige Gesinnung ist in die
Formen gefahren, und so sehen wir zwar immer die
bekannte Natur, allein wir sehen sie von der Gewalt
des Künstlers durchdrungen und nach seinem Sinne
von neuem hervorgebracht.

unterſtreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewiſſe
zudringliche Kraft, die in fruͤheren Jahrhunderten ſich
uͤberall ausſprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar
nicht bloß in Werken der Malerey, ſondern auch in
allen uͤbrigen Kuͤnſten. Es lebt ein ſchwaͤcheres Geſchlecht,
von dem ſich nicht ſagen laͤßt ob es ſo iſt durch die Zeu¬
gung, oder durch eine ſchwaͤchere Erziehung und Nahrung.“

Man ſieht aber dabey, ſagte ich, wie viel in den
Kuͤnſten auf eine große Perſoͤnlichkeit ankommt, die
freylich in fruͤheren Jahrhunderten beſonders zu Hauſe
war. Wenn man in Venedig vor den Werken von
Titian und Paul Veroneſe ſteht, ſo empfindet man
den gewaltigen Geiſt dieſer Maͤnner, in ihrem erſten
Aperçuͤ von dem Gegenſtande, wie in der letzten Aus¬
fuͤhrung. Ihr großes energiſches Empfinden hat die
Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und dieſe
hoͤhere Gewalt der kuͤnſtleriſchen Perſoͤnlichkeit dehnet
unſer eigenes Weſen aus und erhebt uns uͤber uns
ſelbſt wenn wir ſolche Werke betrachten. Dieſer maͤnn¬
liche Geiſt, von dem Sie ſagen, findet ſich auch ganz
beſonders in den Rubensſchen Landſchaften. Es ſind
freylich auch nur Baͤume, Erdboden, Waſſer, Felſen
und Wolken, allein ſeine kraͤftige Geſinnung iſt in die
Formen gefahren, und ſo ſehen wir zwar immer die
bekannte Natur, allein wir ſehen ſie von der Gewalt
des Kuͤnſtlers durchdrungen und nach ſeinem Sinne
von neuem hervorgebracht.

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[268/0278] unterſtreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewiſſe zudringliche Kraft, die in fruͤheren Jahrhunderten ſich uͤberall ausſprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar nicht bloß in Werken der Malerey, ſondern auch in allen uͤbrigen Kuͤnſten. Es lebt ein ſchwaͤcheres Geſchlecht, von dem ſich nicht ſagen laͤßt ob es ſo iſt durch die Zeu¬ gung, oder durch eine ſchwaͤchere Erziehung und Nahrung.“ Man ſieht aber dabey, ſagte ich, wie viel in den Kuͤnſten auf eine große Perſoͤnlichkeit ankommt, die freylich in fruͤheren Jahrhunderten beſonders zu Hauſe war. Wenn man in Venedig vor den Werken von Titian und Paul Veroneſe ſteht, ſo empfindet man den gewaltigen Geiſt dieſer Maͤnner, in ihrem erſten Aperçuͤ von dem Gegenſtande, wie in der letzten Aus¬ fuͤhrung. Ihr großes energiſches Empfinden hat die Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und dieſe hoͤhere Gewalt der kuͤnſtleriſchen Perſoͤnlichkeit dehnet unſer eigenes Weſen aus und erhebt uns uͤber uns ſelbſt wenn wir ſolche Werke betrachten. Dieſer maͤnn¬ liche Geiſt, von dem Sie ſagen, findet ſich auch ganz beſonders in den Rubensſchen Landſchaften. Es ſind freylich auch nur Baͤume, Erdboden, Waſſer, Felſen und Wolken, allein ſeine kraͤftige Geſinnung iſt in die Formen gefahren, und ſo ſehen wir zwar immer die bekannte Natur, allein wir ſehen ſie von der Gewalt des Kuͤnſtlers durchdrungen und nach ſeinem Sinne von neuem hervorgebracht.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/278>, abgerufen am 29.03.2024.