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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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Ich erzählte, daß ich Daphnis und Chloe lese
und zwar in der Übersetzung von Courier. "Das ist
auch ein Meisterstück, sagte Goethe, das ich oft gelesen
und bewundert habe, worin Verstand, Kunst und Ge¬
schmack auf ihrem höchsten Gipfel erscheinen, und wo¬
gegen der gute Virgil freylich ein wenig zurücktritt.
Das landschaftliche Local ist ganz im Poussinischen Styl,
und erscheint hinter den Personen mit sehr wenigen Zü¬
gen vollendet."

"Sie wissen, Courier hat in der Bibliothek zu Flo¬
renz eine neue Handschrift gefunden, mit der Hauptstelle
des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hat¬
ten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Ge¬
dicht in seiner mangelhaften Gestalt gelesen und bewun¬
dert habe, ohne zu fühlen und zu bemerken, daß der
eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieses für die
Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegen¬
wärtige uns so befriedigte, daß man an ein Abwesen¬
des gar nicht dachte."

Nach Tisch zeigte Goethe mir eine von Coudray
gezeichnete höchst geschmackvolle Thür des Dornburger
Schlosses, mit einer lateinischen Inschrift, ungefähr da¬
hin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen
und bewirthet werden solle, und man dem Vorbeyziehen¬
den die glücklichsten Pfade wünsche.

Goethe hatte diese Inschrift in ein deutsches Disti¬
chon verwandelt und als Motto über einen Brief gesetzt,

II. 20

Ich erzaͤhlte, daß ich Daphnis und Chloe leſe
und zwar in der Überſetzung von Courier. „Das iſt
auch ein Meiſterſtuͤck, ſagte Goethe, das ich oft geleſen
und bewundert habe, worin Verſtand, Kunſt und Ge¬
ſchmack auf ihrem hoͤchſten Gipfel erſcheinen, und wo¬
gegen der gute Virgil freylich ein wenig zuruͤcktritt.
Das landſchaftliche Local iſt ganz im Pouſſiniſchen Styl,
und erſcheint hinter den Perſonen mit ſehr wenigen Zuͤ¬
gen vollendet.“

„Sie wiſſen, Courier hat in der Bibliothek zu Flo¬
renz eine neue Handſchrift gefunden, mit der Hauptſtelle
des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hat¬
ten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Ge¬
dicht in ſeiner mangelhaften Geſtalt geleſen und bewun¬
dert habe, ohne zu fuͤhlen und zu bemerken, daß der
eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieſes fuͤr die
Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegen¬
waͤrtige uns ſo befriedigte, daß man an ein Abweſen¬
des gar nicht dachte.“

Nach Tiſch zeigte Goethe mir eine von Coudray
gezeichnete hoͤchſt geſchmackvolle Thuͤr des Dornburger
Schloſſes, mit einer lateiniſchen Inſchrift, ungefaͤhr da¬
hin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen
und bewirthet werden ſolle, und man dem Vorbeyziehen¬
den die gluͤcklichſten Pfade wuͤnſche.

Goethe hatte dieſe Inſchrift in ein deutſches Diſti¬
chon verwandelt und als Motto uͤber einen Brief geſetzt,

II. 20
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[305/0315] Ich erzaͤhlte, daß ich Daphnis und Chloe leſe und zwar in der Überſetzung von Courier. „Das iſt auch ein Meiſterſtuͤck, ſagte Goethe, das ich oft geleſen und bewundert habe, worin Verſtand, Kunſt und Ge¬ ſchmack auf ihrem hoͤchſten Gipfel erſcheinen, und wo¬ gegen der gute Virgil freylich ein wenig zuruͤcktritt. Das landſchaftliche Local iſt ganz im Pouſſiniſchen Styl, und erſcheint hinter den Perſonen mit ſehr wenigen Zuͤ¬ gen vollendet.“ „Sie wiſſen, Courier hat in der Bibliothek zu Flo¬ renz eine neue Handſchrift gefunden, mit der Hauptſtelle des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hat¬ ten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Ge¬ dicht in ſeiner mangelhaften Geſtalt geleſen und bewun¬ dert habe, ohne zu fuͤhlen und zu bemerken, daß der eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieſes fuͤr die Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegen¬ waͤrtige uns ſo befriedigte, daß man an ein Abweſen¬ des gar nicht dachte.“ Nach Tiſch zeigte Goethe mir eine von Coudray gezeichnete hoͤchſt geſchmackvolle Thuͤr des Dornburger Schloſſes, mit einer lateiniſchen Inſchrift, ungefaͤhr da¬ hin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen und bewirthet werden ſolle, und man dem Vorbeyziehen¬ den die gluͤcklichſten Pfade wuͤnſche. Goethe hatte dieſe Inſchrift in ein deutſches Diſti¬ chon verwandelt und als Motto uͤber einen Brief geſetzt, II. 20

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/315>, abgerufen am 25.04.2024.