Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle
vom Tiger und Löwen, worüber der Prinz sehr glück¬
lich war, indem er den Effect einer großen Kunst em¬
pfand, und ich nicht weniger glücklich, indem ich in das
geheime Gewebe einer vollendeten Composition deutlich
hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse Allgegen¬
wart des Gedankens, welches daher entstanden seyn mag,
daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in sei¬
nem Innern hegte, und dadurch so sehr Herr seines Stof¬
fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in höch¬
ster Klarheit zugleich übersehen, und jede einzelne Partie
geschickt dahin stellen konnte, wo sie für sich nothwen¬
dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und
darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwärts und
rückwärts und ist zugleich an seiner Stelle recht, so daß
man als Composition sich nicht leicht etwas Vollkom¬
meneres denken kann. Indem wir weiter lasen empfand
ich den lebhaften Wunsch, daß Goethe selbst dieses Ju¬
wel einer Novelle als ein fremdes Werk möchte betrach¬
ten können. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des
Gegenstandes grade ein sehr günstiges Maß habe, sowohl
für den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬
beiten, als für den Leser um dem Ganzen wie dem
Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.


20*

Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle
vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz ſehr gluͤck¬
lich war, indem er den Effect einer großen Kunſt em¬
pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das
geheime Gewebe einer vollendeten Compoſition deutlich
hineinſah. Ich empfand daran eine gewiſſe Allgegen¬
wart des Gedankens, welches daher entſtanden ſeyn mag,
daß der Dichter den Gegenſtand ſo viele Jahre in ſei¬
nem Innern hegte, und dadurch ſo ſehr Herr ſeines Stof¬
fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬
ſter Klarheit zugleich uͤberſehen, und jede einzelne Partie
geſchickt dahin ſtellen konnte, wo ſie fuͤr ſich nothwen¬
dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und
darauf hinwirkte. Nun bezieht ſich alles vorwaͤrts und
ruͤckwaͤrts und iſt zugleich an ſeiner Stelle recht, ſo daß
man als Compoſition ſich nicht leicht etwas Vollkom¬
meneres denken kann. Indem wir weiter laſen empfand
ich den lebhaften Wunſch, daß Goethe ſelbſt dieſes Ju¬
wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬
ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des
Gegenſtandes grade ein ſehr guͤnſtiges Maß habe, ſowohl
fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬
beiten, als fuͤr den Leſer um dem Ganzen wie dem
Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.


20*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <pb facs="#f0317" n="307"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Donnerstag, den 10. Ma&#x0364;rz 1831.<lb/></dateline>
          <p>Ich las heute mit dem <hi rendition="#g">Prinzen</hi> Goethe's Novelle<lb/>
vom Tiger und Lo&#x0364;wen, woru&#x0364;ber der Prinz &#x017F;ehr glu&#x0364;ck¬<lb/>
lich war, indem er den Effect einer großen Kun&#x017F;t em¬<lb/>
pfand, und ich nicht weniger glu&#x0364;cklich, indem ich in das<lb/>
geheime Gewebe einer vollendeten Compo&#x017F;ition deutlich<lb/>
hinein&#x017F;ah. Ich empfand daran eine gewi&#x017F;&#x017F;e Allgegen¬<lb/>
wart des Gedankens, welches daher ent&#x017F;tanden &#x017F;eyn mag,<lb/>
daß der Dichter den Gegen&#x017F;tand &#x017F;o viele Jahre in &#x017F;ei¬<lb/>
nem Innern hegte, und dadurch &#x017F;o &#x017F;ehr Herr &#x017F;eines Stof¬<lb/>
fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in ho&#x0364;ch¬<lb/>
&#x017F;ter Klarheit zugleich u&#x0364;ber&#x017F;ehen, und jede einzelne Partie<lb/>
ge&#x017F;chickt dahin &#x017F;tellen konnte, wo &#x017F;ie fu&#x0364;r &#x017F;ich nothwen¬<lb/>
dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und<lb/>
darauf hinwirkte. Nun bezieht &#x017F;ich alles vorwa&#x0364;rts und<lb/>
ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts und i&#x017F;t zugleich an &#x017F;einer Stelle recht, &#x017F;o daß<lb/>
man als Compo&#x017F;ition &#x017F;ich nicht leicht etwas Vollkom¬<lb/>
meneres denken kann. Indem wir weiter la&#x017F;en empfand<lb/>
ich den lebhaften Wun&#x017F;ch, daß Goethe &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;es Ju¬<lb/>
wel einer Novelle als ein fremdes Werk mo&#x0364;chte betrach¬<lb/>
ten ko&#x0364;nnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des<lb/>
Gegen&#x017F;tandes grade ein &#x017F;ehr gu&#x0364;n&#x017F;tiges Maß habe, &#x017F;owohl<lb/>
fu&#x0364;r den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬<lb/>
beiten, als fu&#x0364;r den Le&#x017F;er um dem Ganzen wie dem<lb/>
Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <fw place="bottom" type="sig">20*<lb/></fw>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0317] Donnerstag, den 10. Maͤrz 1831. Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz ſehr gluͤck¬ lich war, indem er den Effect einer großen Kunſt em¬ pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Compoſition deutlich hineinſah. Ich empfand daran eine gewiſſe Allgegen¬ wart des Gedankens, welches daher entſtanden ſeyn mag, daß der Dichter den Gegenſtand ſo viele Jahre in ſei¬ nem Innern hegte, und dadurch ſo ſehr Herr ſeines Stof¬ fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬ ſter Klarheit zugleich uͤberſehen, und jede einzelne Partie geſchickt dahin ſtellen konnte, wo ſie fuͤr ſich nothwen¬ dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht ſich alles vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts und iſt zugleich an ſeiner Stelle recht, ſo daß man als Compoſition ſich nicht leicht etwas Vollkom¬ meneres denken kann. Indem wir weiter laſen empfand ich den lebhaften Wunſch, daß Goethe ſelbſt dieſes Ju¬ wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬ ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des Gegenſtandes grade ein ſehr guͤnſtiges Maß habe, ſowohl fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬ beiten, als fuͤr den Leſer um dem Ganzen wie dem Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen. 20*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/317
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/317>, abgerufen am 28.03.2024.