Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Bei Goethe in einer Abendgesellschaft. Die Herren
Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau
v. Göthe waren unter den Anwesenden.

Die Studenten in Jena sind in Aufstand begriffen;
man hat eine Compagnie Artillerie hingeschickt, um sie
zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern,
die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder
Vorwand der Revolte gegeben. Alle diese Lieder
erhielten beim Vorlesen entschiedenen Beifall, besonders
wegen des Talentes das darin sichtbar; Goethe selbst
fand sie gut und versprach sie mir zur ruhigen Durchsicht.

Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferstiche und
kostbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns
die Freude, das Gedicht Charon zu lesen. Die klare,
deutliche und energische Art mußte ich bewundern, womit
Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine so
schöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche
Blicke! Und welche Stimme! abwechselnd donnernd, und
dann wieder sanft und milde. Vielleicht entwickelte er
an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum
in dem wir uns befanden; aber doch war in seinem
Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünschen mögen.

Goethe sprach darauf über Literatur und seine Werke,
sowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬
schäftigt sich gegenwärtig mit der Uebersetzung und

Bei Goethe in einer Abendgeſellſchaft. Die Herren
Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau
v. Göthe waren unter den Anweſenden.

Die Studenten in Jena ſind in Aufſtand begriffen;
man hat eine Compagnie Artillerie hingeſchickt, um ſie
zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern,
die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder
Vorwand der Revolte gegeben. Alle dieſe Lieder
erhielten beim Vorleſen entſchiedenen Beifall, beſonders
wegen des Talentes das darin ſichtbar; Goethe ſelbſt
fand ſie gut und verſprach ſie mir zur ruhigen Durchſicht.

Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferſtiche und
koſtbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns
die Freude, das Gedicht Charon zu leſen. Die klare,
deutliche und energiſche Art mußte ich bewundern, womit
Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine ſo
ſchöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche
Blicke! Und welche Stimme! abwechſelnd donnernd, und
dann wieder ſanft und milde. Vielleicht entwickelte er
an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum
in dem wir uns befanden; aber doch war in ſeinem
Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünſchen mögen.

Goethe ſprach darauf über Literatur und ſeine Werke,
ſowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬
ſchäftigt ſich gegenwärtig mit der Ueberſetzung und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <pb facs="#f0028" n="6"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Dienstag, den 3. December 1822*.<lb/></dateline>
          <p>Bei Goethe in einer Abendge&#x017F;ell&#x017F;chaft. Die Herren<lb/>
Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau<lb/>
v. Göthe waren unter den Anwe&#x017F;enden.</p><lb/>
          <p>Die Studenten in Jena &#x017F;ind in Auf&#x017F;tand begriffen;<lb/>
man hat eine Compagnie Artillerie hinge&#x017F;chickt, um &#x017F;ie<lb/>
zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern,<lb/>
die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder<lb/>
Vorwand der Revolte gegeben. Alle die&#x017F;e Lieder<lb/>
erhielten beim Vorle&#x017F;en ent&#x017F;chiedenen Beifall, be&#x017F;onders<lb/>
wegen des Talentes das darin &#x017F;ichtbar; Goethe &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
fand &#x017F;ie gut und ver&#x017F;prach &#x017F;ie mir zur ruhigen Durch&#x017F;icht.</p><lb/>
          <p>Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupfer&#x017F;tiche und<lb/>
ko&#x017F;tbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns<lb/>
die Freude, das Gedicht <hi rendition="#g">Charon</hi> zu le&#x017F;en. Die klare,<lb/>
deutliche und energi&#x017F;che Art mußte ich bewundern, womit<lb/>
Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche<lb/>
Blicke! Und welche Stimme! abwech&#x017F;elnd donnernd, und<lb/>
dann wieder &#x017F;anft und milde. Vielleicht entwickelte er<lb/>
an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum<lb/>
in dem wir uns befanden; aber doch war in &#x017F;einem<lb/>
Vortrage nichts, was man hätte hinwegwün&#x017F;chen mögen.</p><lb/>
          <p>Goethe &#x017F;prach darauf über Literatur und &#x017F;eine Werke,<lb/>
&#x017F;owie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬<lb/>
&#x017F;chäftigt &#x017F;ich gegenwärtig mit der Ueber&#x017F;etzung und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0028] Dienstag, den 3. December 1822*. Bei Goethe in einer Abendgeſellſchaft. Die Herren Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau v. Göthe waren unter den Anweſenden. Die Studenten in Jena ſind in Aufſtand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeſchickt, um ſie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle dieſe Lieder erhielten beim Vorleſen entſchiedenen Beifall, beſonders wegen des Talentes das darin ſichtbar; Goethe ſelbſt fand ſie gut und verſprach ſie mir zur ruhigen Durchſicht. Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferſtiche und koſtbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht Charon zu leſen. Die klare, deutliche und energiſche Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine ſo ſchöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme! abwechſelnd donnernd, und dann wieder ſanft und milde. Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum in dem wir uns befanden; aber doch war in ſeinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünſchen mögen. Goethe ſprach darauf über Literatur und ſeine Werke, ſowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬ ſchäftigt ſich gegenwärtig mit der Ueberſetzung und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/28
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/28>, abgerufen am 25.04.2024.