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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weise gelungen
seyn sollte, so giebt schon der bloße Vorsatz und Wille,
sie zu behandeln, mir von ihm eine sehr hohe Meinung.
Ich finde besonders merkwürdig und schätzbar, daß bei
ihm überall eine praktische, nützliche und wohlwollende
Tendenz vorwaltet."

Ich hatte ihm zugleich die ersten Capitel der Reise
nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorlesen wollte, die
er aber vorzog allein zu betrachten.

Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬
sens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬
studien und vorbereitenden Kenntnisse sogleich jedes phi¬
losophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als
wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.

"Die guten Leutchen, fuhr er fort, wissen nicht,
was es Einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen
zu lernen
. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht,
und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre."


Mittags mit Goethe sehr vergnügt bei Tisch. Er
sprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬
tius
. "Sein Apercu der Spiraltendenz, sagte er, ist
von der höchsten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch
etwas zu wünschen, so wäre es, daß er sein entdecktes
Urphänomen mit entschiedener Kühnheit durchführte,
und daß er die Courage hätte, ein Factum als Gesetz

dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen
ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille,
ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung.
Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei
ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende
Tendenz vorwaltet.“

Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe
nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die
er aber vorzog allein zu betrachten.

Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬
ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬
ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬
loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als
wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.

„Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht,
was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um leſen
zu lernen
. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht,
und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“


Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er
ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬
tius
. „Sein Aperçu der Spiraltendenz, ſagte er, iſt
von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch
etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes
Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte,
und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz

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[281/0303] dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille, ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung. Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende Tendenz vorwaltet.“ Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die er aber vorzog allein zu betrachten. Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬ ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬ ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬ loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre. „Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht, was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um leſen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht, und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“ Mittwoch, den 27. Januar 1830. Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬ tius. „Sein Aperçu der Spiraltendenz, ſagte er, iſt von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte, und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/303>, abgerufen am 24.04.2024.