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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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und es trifft uns nicht leicht ein tragisches Schicksal,
das uns nicht als Glieder von Beiden träfe. Doch
können wir auch ganz gut tragische Personen seyn und
wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße
Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf
den Conflict an, der keine Auflösung zuläßt, und dieser
kann entstehen aus dem Widerspruch welcher Verhält¬
nisse er wolle, wenn er nur einen ächten Naturgrund
hinter sich hat und nur ein ächt tragischer ist. So
geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten
Ehrgefühls, und der Hercules an dem Dämon liebender
Eifersucht. In beiden Fällen ist nicht der geringste
Conflict von Familienpietät und Staatstugend vor¬
handen, welches doch, nach Hinrichs, die Elemente der
griechischen Tragödie seyn sollen."

Man sieht deutlich, sagte ich, daß er bei dieser
Theorie bloß die Antigone im Sinne hatte. Auch
scheint er bloß den Charakter und die Handlungsweise
dieser Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die
Behauptung hinstellte, daß die Familienpietät am
reinsten im Weibe erscheine und am allerreinsten in
der Schwester, und daß die Schwester nur den Bruder
ganz rein und geschlechtslos
lieben könne.

"Ich dächte, erwiederte Goethe, daß die Liebe von
Schwester zur Schwester noch reiner und geschlechts¬
loser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß un¬
zählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester

und es trifft uns nicht leicht ein tragiſches Schickſal,
das uns nicht als Glieder von Beiden träfe. Doch
können wir auch ganz gut tragiſche Perſonen ſeyn und
wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße
Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf
den Conflict an, der keine Auflöſung zuläßt, und dieſer
kann entſtehen aus dem Widerſpruch welcher Verhält¬
niſſe er wolle, wenn er nur einen ächten Naturgrund
hinter ſich hat und nur ein ächt tragiſcher iſt. So
geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten
Ehrgefühls, und der Hercules an dem Dämon liebender
Eiferſucht. In beiden Fällen iſt nicht der geringſte
Conflict von Familienpietät und Staatstugend vor¬
handen, welches doch, nach Hinrichs, die Elemente der
griechiſchen Tragödie ſeyn ſollen.“

Man ſieht deutlich, ſagte ich, daß er bei dieſer
Theorie bloß die Antigone im Sinne hatte. Auch
ſcheint er bloß den Charakter und die Handlungsweiſe
dieſer Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die
Behauptung hinſtellte, daß die Familienpietät am
reinſten im Weibe erſcheine und am allerreinſten in
der Schweſter, und daß die Schweſter nur den Bruder
ganz rein und geſchlechtslos
lieben könne.

„Ich dächte, erwiederte Goethe, daß die Liebe von
Schweſter zur Schweſter noch reiner und geſchlechts¬
loſer wäre! Wir müßten denn nicht wiſſen, daß un¬
zählige Fälle vorgekommen ſind, wo zwiſchen Schweſter

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[125/0147] und es trifft uns nicht leicht ein tragiſches Schickſal, das uns nicht als Glieder von Beiden träfe. Doch können wir auch ganz gut tragiſche Perſonen ſeyn und wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf den Conflict an, der keine Auflöſung zuläßt, und dieſer kann entſtehen aus dem Widerſpruch welcher Verhält¬ niſſe er wolle, wenn er nur einen ächten Naturgrund hinter ſich hat und nur ein ächt tragiſcher iſt. So geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten Ehrgefühls, und der Hercules an dem Dämon liebender Eiferſucht. In beiden Fällen iſt nicht der geringſte Conflict von Familienpietät und Staatstugend vor¬ handen, welches doch, nach Hinrichs, die Elemente der griechiſchen Tragödie ſeyn ſollen.“ Man ſieht deutlich, ſagte ich, daß er bei dieſer Theorie bloß die Antigone im Sinne hatte. Auch ſcheint er bloß den Charakter und die Handlungsweiſe dieſer Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die Behauptung hinſtellte, daß die Familienpietät am reinſten im Weibe erſcheine und am allerreinſten in der Schweſter, und daß die Schweſter nur den Bruder ganz rein und geſchlechtslos lieben könne. „Ich dächte, erwiederte Goethe, daß die Liebe von Schweſter zur Schweſter noch reiner und geſchlechts¬ loſer wäre! Wir müßten denn nicht wiſſen, daß un¬ zählige Fälle vorgekommen ſind, wo zwiſchen Schweſter

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/147>, abgerufen am 23.04.2024.