Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

einen Reim zu bewahren, hatte sie einen anderen Vers
hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil
gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen
Fehler im Manuscript und konnte ihn noch zeitig ge¬
nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus seyn,
fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu verstehen.
Schiller war hierin besonders groß. Ich sah ihn ein¬
mal bei Gelegenheit seines Musenalmanachs ein pom¬
pöses Gedicht von zwei und zwanzig Strophen
auf sieben reduciren, und zwar hatte das Product
durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren,
vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle gu¬
ten und wirksamen Gedanken jener zwei und zwanzig."


Goethe erzählte mir von dem Besuch zweier Russen,
die heute bei ihm gewesen. "Es waren im Ganzen
recht hübsche Leute, sagte er; aber der Eine zeigte sich
mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der
ganzen Visite kein einziges Wort hervorbrachte. Er
kam mit einer stummen Verbeugung herein, öffnete
während seiner Anwesenheit nicht die Lippen, und nahm
nach einem halben Stündchen mit einer stummen Ver¬
beugung wieder Abschied. Er schien bloß gekommen
zu seyn, mich anzusehen und zu beobachten. Er ließ,
während ich ihnen gegenüber saß, seine Blicke nicht
von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬

III. 22

einen Reim zu bewahren, hatte ſie einen anderen Vers
hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil
gereichte, ja es gewiſſermaßen verdarb. Ich ſah dieſen
Fehler im Manuſcript und konnte ihn noch zeitig ge¬
nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus ſeyn,
fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu verſtehen.
Schiller war hierin beſonders groß. Ich ſah ihn ein¬
mal bei Gelegenheit ſeines Muſenalmanachs ein pom¬
pöſes Gedicht von zwei und zwanzig Strophen
auf ſieben reduciren, und zwar hatte das Product
durch dieſe furchtbare Operation keineswegs verloren,
vielmehr enthielten dieſe ſieben Strophen noch alle gu¬
ten und wirkſamen Gedanken jener zwei und zwanzig.“


Goethe erzählte mir von dem Beſuch zweier Ruſſen,
die heute bei ihm geweſen. „Es waren im Ganzen
recht hübſche Leute, ſagte er; aber der Eine zeigte ſich
mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der
ganzen Viſite kein einziges Wort hervorbrachte. Er
kam mit einer ſtummen Verbeugung herein, öffnete
während ſeiner Anweſenheit nicht die Lippen, und nahm
nach einem halben Stündchen mit einer ſtummen Ver¬
beugung wieder Abſchied. Er ſchien bloß gekommen
zu ſeyn, mich anzuſehen und zu beobachten. Er ließ,
während ich ihnen gegenüber ſaß, ſeine Blicke nicht
von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬

III. 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0359" n="337"/>
einen Reim zu bewahren, hatte &#x017F;ie einen anderen Vers<lb/>
hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil<lb/>
gereichte, ja es gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen verdarb. Ich &#x017F;ah die&#x017F;en<lb/>
Fehler im Manu&#x017F;cript und konnte ihn noch zeitig ge¬<lb/>
nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus &#x017F;eyn,<lb/>
fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu ver&#x017F;tehen.<lb/>
Schiller war hierin be&#x017F;onders groß. Ich &#x017F;ah ihn ein¬<lb/>
mal bei Gelegenheit &#x017F;eines Mu&#x017F;enalmanachs ein pom¬<lb/>&#x017F;es Gedicht von <hi rendition="#g">zwei und zwanzig</hi> Strophen<lb/>
auf <hi rendition="#g">&#x017F;ieben</hi> reduciren, und zwar hatte das Product<lb/>
durch die&#x017F;e furchtbare Operation keineswegs verloren,<lb/>
vielmehr enthielten die&#x017F;e &#x017F;ieben Strophen noch alle gu¬<lb/>
ten und wirk&#x017F;amen Gedanken jener zwei und zwanzig.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Montag, den 19. April 1830*.<lb/></dateline>
          <p>Goethe erzählte mir von dem Be&#x017F;uch zweier Ru&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
die heute bei ihm gewe&#x017F;en. &#x201E;Es waren im Ganzen<lb/>
recht hüb&#x017F;che Leute, &#x017F;agte er; aber der Eine zeigte &#x017F;ich<lb/>
mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der<lb/>
ganzen Vi&#x017F;ite kein einziges Wort hervorbrachte. Er<lb/>
kam mit einer &#x017F;tummen Verbeugung herein, öffnete<lb/>
während &#x017F;einer Anwe&#x017F;enheit nicht die Lippen, und nahm<lb/>
nach einem halben Stündchen mit einer &#x017F;tummen Ver¬<lb/>
beugung wieder Ab&#x017F;chied. Er &#x017F;chien bloß gekommen<lb/>
zu &#x017F;eyn, mich anzu&#x017F;ehen und zu beobachten. Er ließ,<lb/>
während ich ihnen gegenüber &#x017F;aß, &#x017F;eine Blicke nicht<lb/>
von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III</hi>. 22<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[337/0359] einen Reim zu bewahren, hatte ſie einen anderen Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil gereichte, ja es gewiſſermaßen verdarb. Ich ſah dieſen Fehler im Manuſcript und konnte ihn noch zeitig ge¬ nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus ſeyn, fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu verſtehen. Schiller war hierin beſonders groß. Ich ſah ihn ein¬ mal bei Gelegenheit ſeines Muſenalmanachs ein pom¬ pöſes Gedicht von zwei und zwanzig Strophen auf ſieben reduciren, und zwar hatte das Product durch dieſe furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten dieſe ſieben Strophen noch alle gu¬ ten und wirkſamen Gedanken jener zwei und zwanzig.“ Montag, den 19. April 1830*. Goethe erzählte mir von dem Beſuch zweier Ruſſen, die heute bei ihm geweſen. „Es waren im Ganzen recht hübſche Leute, ſagte er; aber der Eine zeigte ſich mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der ganzen Viſite kein einziges Wort hervorbrachte. Er kam mit einer ſtummen Verbeugung herein, öffnete während ſeiner Anweſenheit nicht die Lippen, und nahm nach einem halben Stündchen mit einer ſtummen Ver¬ beugung wieder Abſchied. Er ſchien bloß gekommen zu ſeyn, mich anzuſehen und zu beobachten. Er ließ, während ich ihnen gegenüber ſaß, ſeine Blicke nicht von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬ III. 22

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/359
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/359>, abgerufen am 28.03.2024.