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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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und sich noch ein Bißchen mehr zusammennähme, so
würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären."

Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm
vorwerfen wollen, bemerkte ich, daß er Jenen nachge¬
ahmt und von ihm Ideen entlehnt habe.

"Die Leute wissen nicht, was sie wollen, erwiederte
Goethe. Ich finde durchaus nichts von dergleichen.
Töpfer scheint mir im Gegentheil ganz auf eigenen
Füßen zu stehen, und so durchaus originell zu seyn,
wie mir nur je ein Talent vorgekommen."


Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung
architektonischer Zeichnungen. Ich hatte ein Fünf-Fran¬
ken-Stück von 1830 mit dem Bildniß Carl's des Zehn¬
ten bei mir, das ich vorzeigte. Goethe scherzte über
den zugespitzten Kopf. "Das Organ der Religiosität
erscheint bei ihm sehr entwickelt, bemerkte er. Ohne
Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für
nöthig gehalten, seine Schuld zu bezahlen; dagegen
sind wir sehr tief in die seinige gerathen, indem wir
es seinem Geniestreich verdanken, daß man jetzt in
Europa so bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird."

Wir sprachen darauf über "Rouge et Noir", welches
Goethe für das beste Werk von Stendhal hält.
"Doch kann ich nicht läugnen, fügte er hinzu, daß ei¬
nige seiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantisch

und ſich noch ein Bißchen mehr zuſammennähme, ſo
würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.“

Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm
vorwerfen wollen, bemerkte ich, daß er Jenen nachge¬
ahmt und von ihm Ideen entlehnt habe.

„Die Leute wiſſen nicht, was ſie wollen, erwiederte
Goethe. Ich finde durchaus nichts von dergleichen.
Töpfer ſcheint mir im Gegentheil ganz auf eigenen
Füßen zu ſtehen, und ſo durchaus originell zu ſeyn,
wie mir nur je ein Talent vorgekommen.“


Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung
architektoniſcher Zeichnungen. Ich hatte ein Fünf-Fran¬
ken-Stück von 1830 mit dem Bildniß Carl's des Zehn¬
ten bei mir, das ich vorzeigte. Goethe ſcherzte über
den zugeſpitzten Kopf. „Das Organ der Religioſität
erſcheint bei ihm ſehr entwickelt, bemerkte er. Ohne
Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für
nöthig gehalten, ſeine Schuld zu bezahlen; dagegen
ſind wir ſehr tief in die ſeinige gerathen, indem wir
es ſeinem Genieſtreich verdanken, daß man jetzt in
Europa ſo bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird.“

Wir ſprachen darauf über „Rouge et Noir“, welches
Goethe für das beſte Werk von Stendhal hält.
„Doch kann ich nicht läugnen, fügte er hinzu, daß ei¬
nige ſeiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantiſch

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[347/0369] und ſich noch ein Bißchen mehr zuſammennähme, ſo würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.“ Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm vorwerfen wollen, bemerkte ich, daß er Jenen nachge¬ ahmt und von ihm Ideen entlehnt habe. „Die Leute wiſſen nicht, was ſie wollen, erwiederte Goethe. Ich finde durchaus nichts von dergleichen. Töpfer ſcheint mir im Gegentheil ganz auf eigenen Füßen zu ſtehen, und ſo durchaus originell zu ſeyn, wie mir nur je ein Talent vorgekommen.“ Mittwoch, den 17. Januar 1831*. Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung architektoniſcher Zeichnungen. Ich hatte ein Fünf-Fran¬ ken-Stück von 1830 mit dem Bildniß Carl's des Zehn¬ ten bei mir, das ich vorzeigte. Goethe ſcherzte über den zugeſpitzten Kopf. „Das Organ der Religioſität erſcheint bei ihm ſehr entwickelt, bemerkte er. Ohne Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für nöthig gehalten, ſeine Schuld zu bezahlen; dagegen ſind wir ſehr tief in die ſeinige gerathen, indem wir es ſeinem Genieſtreich verdanken, daß man jetzt in Europa ſo bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird.“ Wir ſprachen darauf über „Rouge et Noir“, welches Goethe für das beſte Werk von Stendhal hält. „Doch kann ich nicht läugnen, fügte er hinzu, daß ei¬ nige ſeiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantiſch

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/369>, abgerufen am 20.04.2024.