Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

scheiden, ob es Zorn oder Rührung war. Er sah
darauf das Bild lange Zeit an und sagte kein
Wort.

Durch die Ermattung von dem Blutverluste, so
wie durch den unerwarteten Anblick des Portraits
schien seine Wildheit einigermassen gebändiget. Die
beyden Freunde drangen daher in ihn, ihnen end¬
lich Aufschluß über das alles zu geben, und, wo
möglich, seine Lebensgeschichte zu erzählen, auf
welche sie beyde sehr begierig waren, da sie wohl
bemerkten, daß er mit diesem Mädchen und vielen
anderen Räthseln in einem nahen Zusammenhange
stehen müsse. Er war heut wirklich ruhig genug
dazu. Er setzte sich, ohne sich weiter nöthigen zu
lassen, neben ihnen auf den Rasen, und begann
sogleich folgendermassen:


Dreyundzwanzigstes Kapitel.

Wenn ich mein Leben überdenke, ist mir so
todtenstill und nüchtern, wie nach einem Balle,
wenn der Saal noch wüst und schwüle qualmt und
ein Licht nach dem anderen verlöscht, weil andere
Lichter durch die zerschlagenen Fenster hineinschielen,
und man reißt die Kleider von der Brust und steigt
draussen auf den höchsten Berg und sieht der Son¬

ſcheiden, ob es Zorn oder Rührung war. Er ſah
darauf das Bild lange Zeit an und ſagte kein
Wort.

Durch die Ermattung von dem Blutverluſte, ſo
wie durch den unerwarteten Anblick des Portraits
ſchien ſeine Wildheit einigermaſſen gebändiget. Die
beyden Freunde drangen daher in ihn, ihnen end¬
lich Aufſchluß über das alles zu geben, und, wo
möglich, ſeine Lebensgeſchichte zu erzählen, auf
welche ſie beyde ſehr begierig waren, da ſie wohl
bemerkten, daß er mit dieſem Mädchen und vielen
anderen Räthſeln in einem nahen Zuſammenhange
ſtehen müſſe. Er war heut wirklich ruhig genug
dazu. Er ſetzte ſich, ohne ſich weiter nöthigen zu
laſſen, neben ihnen auf den Raſen, und begann
ſogleich folgendermaſſen:


Dreyundzwanzigſtes Kapitel.

Wenn ich mein Leben überdenke, iſt mir ſo
todtenſtill und nüchtern, wie nach einem Balle,
wenn der Saal noch wüſt und ſchwüle qualmt und
ein Licht nach dem anderen verlöſcht, weil andere
Lichter durch die zerſchlagenen Fenſter hineinſchielen,
und man reißt die Kleider von der Bruſt und ſteigt
drauſſen auf den höchſten Berg und ſieht der Son¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0421" n="415"/>
&#x017F;cheiden, ob es Zorn oder Rührung war. Er &#x017F;ah<lb/>
darauf das Bild lange Zeit an und &#x017F;agte kein<lb/>
Wort.</p><lb/>
          <p>Durch die Ermattung von dem Blutverlu&#x017F;te, &#x017F;o<lb/>
wie durch den unerwarteten Anblick des Portraits<lb/>
&#x017F;chien &#x017F;eine Wildheit einigerma&#x017F;&#x017F;en gebändiget. Die<lb/>
beyden Freunde drangen daher in ihn, ihnen end¬<lb/>
lich Auf&#x017F;chluß über das alles zu geben, und, wo<lb/>
möglich, &#x017F;eine Lebensge&#x017F;chichte zu erzählen, auf<lb/>
welche &#x017F;ie beyde &#x017F;ehr begierig waren, da &#x017F;ie wohl<lb/>
bemerkten, daß er mit die&#x017F;em Mädchen und vielen<lb/>
anderen Räth&#x017F;eln in einem nahen Zu&#x017F;ammenhange<lb/>
&#x017F;tehen mü&#x017F;&#x017F;e. Er war heut wirklich ruhig genug<lb/>
dazu. Er &#x017F;etzte &#x017F;ich, ohne &#x017F;ich weiter nöthigen zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, neben ihnen auf den Ra&#x017F;en, und begann<lb/>
&#x017F;ogleich folgenderma&#x017F;&#x017F;en:</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Dreyundzwanzig&#x017F;tes Kapitel</hi>.<lb/></head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Wenn ich mein Leben überdenke, i&#x017F;t mir &#x017F;o<lb/>
todten&#x017F;till und nüchtern, wie nach einem Balle,<lb/>
wenn der Saal noch wü&#x017F;t und &#x017F;chwüle qualmt und<lb/>
ein Licht nach dem anderen verlö&#x017F;cht, weil andere<lb/>
Lichter durch die zer&#x017F;chlagenen Fen&#x017F;ter hinein&#x017F;chielen,<lb/>
und man reißt die Kleider von der Bru&#x017F;t und &#x017F;teigt<lb/>
drau&#x017F;&#x017F;en auf den höch&#x017F;ten Berg und &#x017F;ieht der Son¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[415/0421] ſcheiden, ob es Zorn oder Rührung war. Er ſah darauf das Bild lange Zeit an und ſagte kein Wort. Durch die Ermattung von dem Blutverluſte, ſo wie durch den unerwarteten Anblick des Portraits ſchien ſeine Wildheit einigermaſſen gebändiget. Die beyden Freunde drangen daher in ihn, ihnen end¬ lich Aufſchluß über das alles zu geben, und, wo möglich, ſeine Lebensgeſchichte zu erzählen, auf welche ſie beyde ſehr begierig waren, da ſie wohl bemerkten, daß er mit dieſem Mädchen und vielen anderen Räthſeln in einem nahen Zuſammenhange ſtehen müſſe. Er war heut wirklich ruhig genug dazu. Er ſetzte ſich, ohne ſich weiter nöthigen zu laſſen, neben ihnen auf den Raſen, und begann ſogleich folgendermaſſen: Dreyundzwanzigſtes Kapitel. Wenn ich mein Leben überdenke, iſt mir ſo todtenſtill und nüchtern, wie nach einem Balle, wenn der Saal noch wüſt und ſchwüle qualmt und ein Licht nach dem anderen verlöſcht, weil andere Lichter durch die zerſchlagenen Fenſter hineinſchielen, und man reißt die Kleider von der Bruſt und ſteigt drauſſen auf den höchſten Berg und ſieht der Son¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/421
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/421>, abgerufen am 20.04.2024.