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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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seine Götter selbst als entstanden. Die zeugende Kraft ist ihm
die erste Kraft: er setzt als Grund der Natur daher eine Kraft
der Natur; eine reale, gegenwärtige, in seiner Anschauung sich
bethätigende Kraft als Grund der Realität. So denkt der
Mensch, wo er sich ästhetisch oder theoretisch -- denn die theo-
retische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Aesthetik
die prima philosophia -- zur Welt verhält, wo ihm der Be-
griff der Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der
Göttlichkeit selbst ist. Nur da, wo solche Anschauung Grund-
princip war, konnten Gedanken gefaßt und ausgesprochen wer-
den, wie der des Anaxagoras: der Mensch sei geboren zur
Anschauung der Welt
*). Der Standpunkt der Theorie ist
der Standpunkt der Harmonie mit der Welt. Die sub-
jective
Thätigkeit, diejenige, in welcher der Mensch sich be-
friedigt, sich freien Spielraum läßt, ist hier allein die sinnliche
Einbildungskraft. Er läßt hier, indem er sich befriedigt, zu-
gleich die Natur in Frieden gewähren und bestehen, indem er
seine Luftschlösser, seine poetischen Kosmogonien nur aus na-
türlichen Materialien
zusammensetzt. Wo dagegen der
Mensch nur auf den praktischen Standpunkt sich stellt und von
diesem aus die Welt betrachtet, den praktischen Standpunkt
selbst zum theoretischen macht, da ist er entzweit mit der Natur,
da macht er die Natur zur unterthänigsten Dienerin sei-
nes selbstischen Interesses, seines praktischen Egoismus's. Der
theoretische Ausdruck dieser egoistischen, praktischen An-
schauung
, welcher die Natur an und für sich selbst Nichts

*) Bei Diogenes L. lib. II. c. III. §. 6. heißt es wörtlich "zur An-
schauung der Sonne, des Mondes und des Himmels." Aehnliche Gedanken
bei andern Philosophen. So sagten auch die Stoiker: Ipse autem homo
ortus est ad mundum contemplandum et imitandum. (Cic. de nat.)

ſeine Götter ſelbſt als entſtanden. Die zeugende Kraft iſt ihm
die erſte Kraft: er ſetzt als Grund der Natur daher eine Kraft
der Natur; eine reale, gegenwärtige, in ſeiner Anſchauung ſich
bethätigende Kraft als Grund der Realität. So denkt der
Menſch, wo er ſich äſthetiſch oder theoretiſch — denn die theo-
retiſche Anſchauung iſt urſprünglich die äſthetiſche, die Aeſthetik
die prima philosophia — zur Welt verhält, wo ihm der Be-
griff der Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der
Göttlichkeit ſelbſt iſt. Nur da, wo ſolche Anſchauung Grund-
princip war, konnten Gedanken gefaßt und ausgeſprochen wer-
den, wie der des Anaxagoras: der Menſch ſei geboren zur
Anſchauung der Welt
*). Der Standpunkt der Theorie iſt
der Standpunkt der Harmonie mit der Welt. Die ſub-
jective
Thätigkeit, diejenige, in welcher der Menſch ſich be-
friedigt, ſich freien Spielraum läßt, iſt hier allein die ſinnliche
Einbildungskraft. Er läßt hier, indem er ſich befriedigt, zu-
gleich die Natur in Frieden gewähren und beſtehen, indem er
ſeine Luftſchlöſſer, ſeine poetiſchen Kosmogonien nur aus na-
türlichen Materialien
zuſammenſetzt. Wo dagegen der
Menſch nur auf den praktiſchen Standpunkt ſich ſtellt und von
dieſem aus die Welt betrachtet, den praktiſchen Standpunkt
ſelbſt zum theoretiſchen macht, da iſt er entzweit mit der Natur,
da macht er die Natur zur unterthänigſten Dienerin ſei-
nes ſelbſtiſchen Intereſſes, ſeines praktiſchen Egoismus’s. Der
theoretiſche Ausdruck dieſer egoiſtiſchen, praktiſchen An-
ſchauung
, welcher die Natur an und für ſich ſelbſt Nichts

*) Bei Diogenes L. lib. II. c. III. §. 6. heißt es wörtlich „zur An-
ſchauung der Sonne, des Mondes und des Himmels.“ Aehnliche Gedanken
bei andern Philoſophen. So ſagten auch die Stoiker: Ipse autem homo
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[143/0161] ſeine Götter ſelbſt als entſtanden. Die zeugende Kraft iſt ihm die erſte Kraft: er ſetzt als Grund der Natur daher eine Kraft der Natur; eine reale, gegenwärtige, in ſeiner Anſchauung ſich bethätigende Kraft als Grund der Realität. So denkt der Menſch, wo er ſich äſthetiſch oder theoretiſch — denn die theo- retiſche Anſchauung iſt urſprünglich die äſthetiſche, die Aeſthetik die prima philosophia — zur Welt verhält, wo ihm der Be- griff der Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit ſelbſt iſt. Nur da, wo ſolche Anſchauung Grund- princip war, konnten Gedanken gefaßt und ausgeſprochen wer- den, wie der des Anaxagoras: der Menſch ſei geboren zur Anſchauung der Welt *). Der Standpunkt der Theorie iſt der Standpunkt der Harmonie mit der Welt. Die ſub- jective Thätigkeit, diejenige, in welcher der Menſch ſich be- friedigt, ſich freien Spielraum läßt, iſt hier allein die ſinnliche Einbildungskraft. Er läßt hier, indem er ſich befriedigt, zu- gleich die Natur in Frieden gewähren und beſtehen, indem er ſeine Luftſchlöſſer, ſeine poetiſchen Kosmogonien nur aus na- türlichen Materialien zuſammenſetzt. Wo dagegen der Menſch nur auf den praktiſchen Standpunkt ſich ſtellt und von dieſem aus die Welt betrachtet, den praktiſchen Standpunkt ſelbſt zum theoretiſchen macht, da iſt er entzweit mit der Natur, da macht er die Natur zur unterthänigſten Dienerin ſei- nes ſelbſtiſchen Intereſſes, ſeines praktiſchen Egoismus’s. Der theoretiſche Ausdruck dieſer egoiſtiſchen, praktiſchen An- ſchauung, welcher die Natur an und für ſich ſelbſt Nichts *) Bei Diogenes L. lib. II. c. III. §. 6. heißt es wörtlich „zur An- ſchauung der Sonne, des Mondes und des Himmels.“ Aehnliche Gedanken bei andern Philoſophen. So ſagten auch die Stoiker: Ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum. (Cic. de nat.)

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/161>, abgerufen am 19.04.2024.