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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Das Geheimniß des christlichen Christus oder des per-
sönlichen Gottes.

Die Grunddogmen des Christenthums sind realisirte Her-
zenswünsche -- das Wesen des Christenthums ist das Wesen
des Gemüths. Es ist gemüthlicher, zu leiden als zu handeln,
gemüthlicher, durch einen Andern erlöst und befreit zu werden,
als sich selbst zu befreien, gemüthlicher, von einer Person als
von der Kraft der Selbstthätigkeit sein Heil abhängig zu ma-
chen, gemüthlicher statt des Objects des Strebens ein Object
der Liebe zu setzen, gemüthlicher, sich von Gott geliebt zu wis-
sen, als sich selbst zu lieben mit der einfachen, natürlichen
Selbstliebe, die allen Wesen eingeboren, gemüthlicher, sich
in den liebestrahlenden Augen eines andern persönlichen We-
sens zu bespiegeln, als in den Hohlspiegel des eignen Selbsts
oder in die kalte Tiefe des stillen Oceans der Natur zu
schauen, gemüthlicher überhaupt, sich von seinem eignen
Gemüthe als von einem andern
, aber doch im Grunde
demselbigen Wesen afficiren
zu lassen, als sich selbst
durch die Vernunft zu bestimmen. Das Gemüth ist über-
haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accusativ.
Das Fichte'sche Ich ist gemüthlos, weil der Accusativ dem
Nominativ gleich ist, weil es ein Indeclinabile. Aber das
Gemüth ist das von sich selbst afficirte und zwar das
von sich als wie von einem andern Wesen afficirte
Ich
-- das passive Ich. Das Gemüth verwandelt das
Activum im Menschen in ein Passivum, und das Passivum in
ein Activum. Das Denkende ist dem Gemüthe das Gedachte,
das Gedachte das Denkende. Das Gemüth ist träumerischer
Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes

Das Geheimniß des chriſtlichen Chriſtus oder des per-
ſönlichen Gottes.

Die Grunddogmen des Chriſtenthums ſind realiſirte Her-
zenswünſche — das Weſen des Chriſtenthums iſt das Weſen
des Gemüths. Es iſt gemüthlicher, zu leiden als zu handeln,
gemüthlicher, durch einen Andern erlöſt und befreit zu werden,
als ſich ſelbſt zu befreien, gemüthlicher, von einer Perſon als
von der Kraft der Selbſtthätigkeit ſein Heil abhängig zu ma-
chen, gemüthlicher ſtatt des Objects des Strebens ein Object
der Liebe zu ſetzen, gemüthlicher, ſich von Gott geliebt zu wiſ-
ſen, als ſich ſelbſt zu lieben mit der einfachen, natürlichen
Selbſtliebe, die allen Weſen eingeboren, gemüthlicher, ſich
in den liebeſtrahlenden Augen eines andern perſönlichen We-
ſens zu beſpiegeln, als in den Hohlſpiegel des eignen Selbſts
oder in die kalte Tiefe des ſtillen Oceans der Natur zu
ſchauen, gemüthlicher überhaupt, ſich von ſeinem eignen
Gemüthe als von einem andern
, aber doch im Grunde
demſelbigen Weſen afficiren
zu laſſen, als ſich ſelbſt
durch die Vernunft zu beſtimmen. Das Gemüth iſt über-
haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accuſativ.
Das Fichte’ſche Ich iſt gemüthlos, weil der Accuſativ dem
Nominativ gleich iſt, weil es ein Indeclinabile. Aber das
Gemüth iſt das von ſich ſelbſt afficirte und zwar das
von ſich als wie von einem andern Weſen afficirte
Ich
— das paſſive Ich. Das Gemüth verwandelt das
Activum im Menſchen in ein Paſſivum, und das Paſſivum in
ein Activum. Das Denkende iſt dem Gemüthe das Gedachte,
das Gedachte das Denkende. Das Gemüth iſt träumeriſcher
Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes

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[183/0201] Das Geheimniß des chriſtlichen Chriſtus oder des per- ſönlichen Gottes. Die Grunddogmen des Chriſtenthums ſind realiſirte Her- zenswünſche — das Weſen des Chriſtenthums iſt das Weſen des Gemüths. Es iſt gemüthlicher, zu leiden als zu handeln, gemüthlicher, durch einen Andern erlöſt und befreit zu werden, als ſich ſelbſt zu befreien, gemüthlicher, von einer Perſon als von der Kraft der Selbſtthätigkeit ſein Heil abhängig zu ma- chen, gemüthlicher ſtatt des Objects des Strebens ein Object der Liebe zu ſetzen, gemüthlicher, ſich von Gott geliebt zu wiſ- ſen, als ſich ſelbſt zu lieben mit der einfachen, natürlichen Selbſtliebe, die allen Weſen eingeboren, gemüthlicher, ſich in den liebeſtrahlenden Augen eines andern perſönlichen We- ſens zu beſpiegeln, als in den Hohlſpiegel des eignen Selbſts oder in die kalte Tiefe des ſtillen Oceans der Natur zu ſchauen, gemüthlicher überhaupt, ſich von ſeinem eignen Gemüthe als von einem andern, aber doch im Grunde demſelbigen Weſen afficiren zu laſſen, als ſich ſelbſt durch die Vernunft zu beſtimmen. Das Gemüth iſt über- haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accuſativ. Das Fichte’ſche Ich iſt gemüthlos, weil der Accuſativ dem Nominativ gleich iſt, weil es ein Indeclinabile. Aber das Gemüth iſt das von ſich ſelbſt afficirte und zwar das von ſich als wie von einem andern Weſen afficirte Ich — das paſſive Ich. Das Gemüth verwandelt das Activum im Menſchen in ein Paſſivum, und das Paſſivum in ein Activum. Das Denkende iſt dem Gemüthe das Gedachte, das Gedachte das Denkende. Das Gemüth iſt träumeriſcher Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/201>, abgerufen am 28.03.2024.