Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

der Glaube aber an die Liebe der Glaube an die Wahr-
heit
und Gottheit des menschlichen Herzens. Der sei-
ner selbst bewußte, der denkende Mensch erkennt das Herz als
Herz
, den Verstand als Verstand, beide in der Einheit ih-
rer Wesenheit und Wirklichkeit, als göttliche, absolute Mächte.
Aber die Religion, ihrer sich nicht bewußt, und beruhend auf
der Scheidung der Wesenheit von der Wirklichkeit des
Wesens des Menschen, als eines andern Wesens, vom wirk-
lichen individuellen Menschen, vergegenständlicht auch das
Wesen des Herzens, wie des Verstandes, als ein andres, ob-
jectives und zwar persönliches Wesen.

Eine Wesensbestimmung des menschgewordnen oder, was
eins ist, des menschlichen Gottes, also Christi, ist die Passion.
Die Liebe bewährt sich durch Leiden. Alle Gedanken und
Empfindungen, die sich zunächst an Christus anschließen, con-
centriren sich in dem Begriffe des Leidens. Gott als Gott
ist der Inbegriff aller menschlichen Vollkommenheit, Christus
der Inbegriff alles menschlichen Elends. Die heidnischen Phi-
losophen feierten die Actuosität, die Spontaneität der Intelli-
genz als die höchste, als die göttliche Thätigkeit; die Christen
heiligten das Leiden, setzten das Leiden selbst in Gott. Wenn
Gott als Actus purus der Gott der Philosophie, so ist dage-
gen Christus, der Gott der Christen, die Passio pura -- der
höchste metaphysische Gedanke, das etre supreme des Her-
zens
. Denn was macht mehr Eindruck auf das Herz als
Leiden? und zwar das Leiden des an sich Leidlosen, des über
alles Leiden Erhabenen, das Leiden des Unschuldigen, des Sün-
denreinen, das Leiden lediglich zum Besten Anderer, das frei-
willige Leiden, das Leiden der Liebe, der Selbstaufopferung?
Aber eben deßwegen weil die Passionsgeschichte die ergreifendste

der Glaube aber an die Liebe der Glaube an die Wahr-
heit
und Gottheit des menſchlichen Herzens. Der ſei-
ner ſelbſt bewußte, der denkende Menſch erkennt das Herz als
Herz
, den Verſtand als Verſtand, beide in der Einheit ih-
rer Weſenheit und Wirklichkeit, als göttliche, abſolute Mächte.
Aber die Religion, ihrer ſich nicht bewußt, und beruhend auf
der Scheidung der Weſenheit von der Wirklichkeit des
Weſens des Menſchen, als eines andern Weſens, vom wirk-
lichen individuellen Menſchen, vergegenſtändlicht auch das
Weſen des Herzens, wie des Verſtandes, als ein andres, ob-
jectives und zwar perſönliches Weſen.

Eine Weſensbeſtimmung des menſchgewordnen oder, was
eins iſt, des menſchlichen Gottes, alſo Chriſti, iſt die Paſſion.
Die Liebe bewährt ſich durch Leiden. Alle Gedanken und
Empfindungen, die ſich zunächſt an Chriſtus anſchließen, con-
centriren ſich in dem Begriffe des Leidens. Gott als Gott
iſt der Inbegriff aller menſchlichen Vollkommenheit, Chriſtus
der Inbegriff alles menſchlichen Elends. Die heidniſchen Phi-
loſophen feierten die Actuoſität, die Spontaneität der Intelli-
genz als die höchſte, als die göttliche Thätigkeit; die Chriſten
heiligten das Leiden, ſetzten das Leiden ſelbſt in Gott. Wenn
Gott als Actus purus der Gott der Philoſophie, ſo iſt dage-
gen Chriſtus, der Gott der Chriſten, die Passio pura — der
höchſte metaphyſiſche Gedanke, das être suprême des Her-
zens
. Denn was macht mehr Eindruck auf das Herz als
Leiden? und zwar das Leiden des an ſich Leidloſen, des über
alles Leiden Erhabenen, das Leiden des Unſchuldigen, des Sün-
denreinen, das Leiden lediglich zum Beſten Anderer, das frei-
willige Leiden, das Leiden der Liebe, der Selbſtaufopferung?
Aber eben deßwegen weil die Paſſionsgeſchichte die ergreifendſte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0079" n="61"/>
der Glaube aber an die Liebe der Glaube an die <hi rendition="#g">Wahr-<lb/>
heit</hi> und <hi rendition="#g">Gottheit des men&#x017F;chlichen Herzens</hi>. Der &#x017F;ei-<lb/>
ner &#x017F;elb&#x017F;t bewußte, der denkende Men&#x017F;ch erkennt das Herz <hi rendition="#g">als<lb/>
Herz</hi>, den Ver&#x017F;tand <hi rendition="#g">als Ver&#x017F;tand</hi>, beide in der Einheit ih-<lb/>
rer We&#x017F;enheit und Wirklichkeit, als göttliche, ab&#x017F;olute Mächte.<lb/>
Aber die Religion, ihrer &#x017F;ich nicht bewußt, und beruhend auf<lb/>
der <hi rendition="#g">Scheidung</hi> der <hi rendition="#g">We&#x017F;enheit</hi> von der <hi rendition="#g">Wirklichkeit</hi> des<lb/><hi rendition="#g">We&#x017F;ens</hi> des Men&#x017F;chen, als eines andern We&#x017F;ens, vom wirk-<lb/>
lichen individuellen Men&#x017F;chen, vergegen&#x017F;tändlicht auch das<lb/>
We&#x017F;en des Herzens, wie des Ver&#x017F;tandes, als ein andres, ob-<lb/>
jectives und zwar per&#x017F;önliches We&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Eine We&#x017F;ensbe&#x017F;timmung des men&#x017F;chgewordnen oder, was<lb/>
eins i&#x017F;t, des men&#x017F;chlichen Gottes, al&#x017F;o Chri&#x017F;ti, i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Pa&#x017F;&#x017F;ion</hi>.<lb/>
Die Liebe <hi rendition="#g">bewährt &#x017F;ich durch Leiden</hi>. Alle Gedanken und<lb/>
Empfindungen, die &#x017F;ich zunäch&#x017F;t an Chri&#x017F;tus an&#x017F;chließen, con-<lb/>
centriren &#x017F;ich in dem Begriffe des Leidens. Gott als Gott<lb/>
i&#x017F;t der Inbegriff aller men&#x017F;chlichen Vollkommenheit, Chri&#x017F;tus<lb/>
der Inbegriff alles men&#x017F;chlichen Elends. Die heidni&#x017F;chen Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophen feierten die Actuo&#x017F;ität, die Spontaneität der Intelli-<lb/>
genz als die höch&#x017F;te, als die göttliche Thätigkeit; die Chri&#x017F;ten<lb/>
heiligten das Leiden, &#x017F;etzten das Leiden &#x017F;elb&#x017F;t in Gott. Wenn<lb/>
Gott als <hi rendition="#aq">Actus purus</hi> der Gott der Philo&#x017F;ophie, &#x017F;o i&#x017F;t dage-<lb/>
gen Chri&#x017F;tus, der Gott der Chri&#x017F;ten, die <hi rendition="#aq">Passio pura</hi> &#x2014; der<lb/>
höch&#x017F;te metaphy&#x017F;i&#x017F;che Gedanke, das <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">être suprême</hi> des Her-<lb/>
zens</hi>. Denn was macht mehr Eindruck auf das Herz als<lb/>
Leiden? und zwar das Leiden des an &#x017F;ich Leidlo&#x017F;en, des über<lb/>
alles Leiden Erhabenen, das Leiden des Un&#x017F;chuldigen, des Sün-<lb/>
denreinen, das Leiden lediglich zum Be&#x017F;ten Anderer, das frei-<lb/>
willige Leiden, das Leiden der Liebe, der Selb&#x017F;taufopferung?<lb/>
Aber eben deßwegen weil die Pa&#x017F;&#x017F;ionsge&#x017F;chichte die ergreifend&#x017F;te<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0079] der Glaube aber an die Liebe der Glaube an die Wahr- heit und Gottheit des menſchlichen Herzens. Der ſei- ner ſelbſt bewußte, der denkende Menſch erkennt das Herz als Herz, den Verſtand als Verſtand, beide in der Einheit ih- rer Weſenheit und Wirklichkeit, als göttliche, abſolute Mächte. Aber die Religion, ihrer ſich nicht bewußt, und beruhend auf der Scheidung der Weſenheit von der Wirklichkeit des Weſens des Menſchen, als eines andern Weſens, vom wirk- lichen individuellen Menſchen, vergegenſtändlicht auch das Weſen des Herzens, wie des Verſtandes, als ein andres, ob- jectives und zwar perſönliches Weſen. Eine Weſensbeſtimmung des menſchgewordnen oder, was eins iſt, des menſchlichen Gottes, alſo Chriſti, iſt die Paſſion. Die Liebe bewährt ſich durch Leiden. Alle Gedanken und Empfindungen, die ſich zunächſt an Chriſtus anſchließen, con- centriren ſich in dem Begriffe des Leidens. Gott als Gott iſt der Inbegriff aller menſchlichen Vollkommenheit, Chriſtus der Inbegriff alles menſchlichen Elends. Die heidniſchen Phi- loſophen feierten die Actuoſität, die Spontaneität der Intelli- genz als die höchſte, als die göttliche Thätigkeit; die Chriſten heiligten das Leiden, ſetzten das Leiden ſelbſt in Gott. Wenn Gott als Actus purus der Gott der Philoſophie, ſo iſt dage- gen Chriſtus, der Gott der Chriſten, die Passio pura — der höchſte metaphyſiſche Gedanke, das être suprême des Her- zens. Denn was macht mehr Eindruck auf das Herz als Leiden? und zwar das Leiden des an ſich Leidloſen, des über alles Leiden Erhabenen, das Leiden des Unſchuldigen, des Sün- denreinen, das Leiden lediglich zum Beſten Anderer, das frei- willige Leiden, das Leiden der Liebe, der Selbſtaufopferung? Aber eben deßwegen weil die Paſſionsgeſchichte die ergreifendſte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/79
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/79>, abgerufen am 20.04.2024.