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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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in welches er die Namen der ihm theuersten, heiligsten Wesen
einträgt.

Es ist ein Zeichen einer haushälterischen Gemüthlichkeit,
ein weiblicher Trieb, zu sammeln und das Gesammelte zusam-
men zu halten, nicht den Wogen der Vergeßlichkeit, dem Zu-
fall der Erinnerung, überhaupt nicht sich selbst zu überlas-
sen und anzuvertrauen, was man Werthes hat kennen lernen.
Der Freigeist ist der Gefahr eines dissoluten Lebens ausgesetzt,
der Religiöse, weil er Alles in Eins zusammenfaßt, ist der Ge-
fahr, sich im sinnlichen Leben zu verlieren, entnommen, aber
dafür der Gefahr der Illiberalität, der geistlichen Selbst- und
Gewinnsucht ausgesetzt. Der Ir- oder wenigstens Nichtreli-
giöse erscheint daher auch, wenigstens dem Religiösen, als der
Menschliches Vergötternde, als der Subjective, Eigenmächtige,
Hochmüthige, nicht deßwegen, weil ihm nicht auch an sich
heilig wäre, was dem Religiösen heilig ist, sondern nur, weil
Das, was der Nicht-religiöse nur in seinem Kopfe behält,
der Religiöse außer sich als Object sich gegenüber und zugleich
über sich setzt, daher das Verhältniß der Subordination, der
Subjection in sich aufnimmt. Kurz der Religiöse hat, weil
ein Collectaneenbuch, einen Sammelpunkt, einen Zweck. Ohne
Religion erscheint den Menschen das Leben als ein zweckloses.
In der That setzten auch alle tüchtigen Menschen sich einen
höchsten Zweck. Das Geheimniß eines im höhern Sinne sitt-
lichen Lebens beruht auf dieser Teleologie. Nicht der Wille
als solcher, nicht das vage Wissen, nur der Zweck, in dem sich
die theoretische Thätigkeit mit der praktischen verbindet, gibt
dem Menschen einen sittlichen Grund und Halt, d. h. Cha-
rakter. Der gewöhnliche Mensch verliert sich ohne Religion
(im gewöhnlichen, aber weltgültigen Sinne), es fehlt ihm der

in welches er die Namen der ihm theuerſten, heiligſten Weſen
einträgt.

Es iſt ein Zeichen einer haushälteriſchen Gemüthlichkeit,
ein weiblicher Trieb, zu ſammeln und das Geſammelte zuſam-
men zu halten, nicht den Wogen der Vergeßlichkeit, dem Zu-
fall der Erinnerung, überhaupt nicht ſich ſelbſt zu überlaſ-
ſen und anzuvertrauen, was man Werthes hat kennen lernen.
Der Freigeiſt iſt der Gefahr eines diſſoluten Lebens ausgeſetzt,
der Religiöſe, weil er Alles in Eins zuſammenfaßt, iſt der Ge-
fahr, ſich im ſinnlichen Leben zu verlieren, entnommen, aber
dafür der Gefahr der Illiberalität, der geiſtlichen Selbſt- und
Gewinnſucht ausgeſetzt. Der Ir- oder wenigſtens Nichtreli-
giöſe erſcheint daher auch, wenigſtens dem Religiöſen, als der
Menſchliches Vergötternde, als der Subjective, Eigenmächtige,
Hochmüthige, nicht deßwegen, weil ihm nicht auch an ſich
heilig wäre, was dem Religiöſen heilig iſt, ſondern nur, weil
Das, was der Nicht-religiöſe nur in ſeinem Kopfe behält,
der Religiöſe außer ſich als Object ſich gegenüber und zugleich
über ſich ſetzt, daher das Verhältniß der Subordination, der
Subjection in ſich aufnimmt. Kurz der Religiöſe hat, weil
ein Collectaneenbuch, einen Sammelpunkt, einen Zweck. Ohne
Religion erſcheint den Menſchen das Leben als ein zweckloſes.
In der That ſetzten auch alle tüchtigen Menſchen ſich einen
höchſten Zweck. Das Geheimniß eines im höhern Sinne ſitt-
lichen Lebens beruht auf dieſer Teleologie. Nicht der Wille
als ſolcher, nicht das vage Wiſſen, nur der Zweck, in dem ſich
die theoretiſche Thätigkeit mit der praktiſchen verbindet, gibt
dem Menſchen einen ſittlichen Grund und Halt, d. h. Cha-
rakter. Der gewöhnliche Menſch verliert ſich ohne Religion
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[70/0088] in welches er die Namen der ihm theuerſten, heiligſten Weſen einträgt. Es iſt ein Zeichen einer haushälteriſchen Gemüthlichkeit, ein weiblicher Trieb, zu ſammeln und das Geſammelte zuſam- men zu halten, nicht den Wogen der Vergeßlichkeit, dem Zu- fall der Erinnerung, überhaupt nicht ſich ſelbſt zu überlaſ- ſen und anzuvertrauen, was man Werthes hat kennen lernen. Der Freigeiſt iſt der Gefahr eines diſſoluten Lebens ausgeſetzt, der Religiöſe, weil er Alles in Eins zuſammenfaßt, iſt der Ge- fahr, ſich im ſinnlichen Leben zu verlieren, entnommen, aber dafür der Gefahr der Illiberalität, der geiſtlichen Selbſt- und Gewinnſucht ausgeſetzt. Der Ir- oder wenigſtens Nichtreli- giöſe erſcheint daher auch, wenigſtens dem Religiöſen, als der Menſchliches Vergötternde, als der Subjective, Eigenmächtige, Hochmüthige, nicht deßwegen, weil ihm nicht auch an ſich heilig wäre, was dem Religiöſen heilig iſt, ſondern nur, weil Das, was der Nicht-religiöſe nur in ſeinem Kopfe behält, der Religiöſe außer ſich als Object ſich gegenüber und zugleich über ſich ſetzt, daher das Verhältniß der Subordination, der Subjection in ſich aufnimmt. Kurz der Religiöſe hat, weil ein Collectaneenbuch, einen Sammelpunkt, einen Zweck. Ohne Religion erſcheint den Menſchen das Leben als ein zweckloſes. In der That ſetzten auch alle tüchtigen Menſchen ſich einen höchſten Zweck. Das Geheimniß eines im höhern Sinne ſitt- lichen Lebens beruht auf dieſer Teleologie. Nicht der Wille als ſolcher, nicht das vage Wiſſen, nur der Zweck, in dem ſich die theoretiſche Thätigkeit mit der praktiſchen verbindet, gibt dem Menſchen einen ſittlichen Grund und Halt, d. h. Cha- rakter. Der gewöhnliche Menſch verliert ſich ohne Religion (im gewöhnlichen, aber weltgültigen Sinne), es fehlt ihm der

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/88>, abgerufen am 25.04.2024.