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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863.

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leugnen ihre Sprache und sind froh, wenn sie es sprachlich dahin gebracht
haben, daß man ihnen die wendische Abkunft nicht mehr anmerkt.

In der Ober-Lausitz leben nach Angabe eines wendischen Gelehrten
ungefähr noch 101,000 Wenden; von dieser Zahl kommen etwa 56,100
Köpfe auf Sachsen, 45,000 auf Preußen. In der Nieder-Lausitz giebt es
ungefähr noch 50,000 Köpfe. In Sachsen geht die Wendei von Löbau
nordwärts über Bautzen bis Kamenz. Bis in die neuere Zeit waren die
Schulen fast nur Anstalten zur Erlernung der deutschen Sprache und die
Pflege der übrigen Elementargegenstände mag darunter wohl vielfach ge-
litten haben. Es hat deshalb die Regierung angeordnet, daß der Religions-
Unterricht wendisch ertheilt werde, Lesen und Schreiben aber sowohl wen-
disch wie deutsch zu treiben ist.

Unter den gebildeten Wenden regte sich zuerst mit der allgemeinen
dem Jahre 1848 vorangehenden Gährung die Liebe zur nationalen Sache
und Sprache, und so entstand schon im Jahre 1846 die "Macica Serbska",
ein Verein nach Art des Zwickauer Volksschriftenvereins mit dem Zweck,
weitere Kreise mit lehrreicher Unterhaltungslektüre zu versorgen. Der Buch-
handel hatte dem Bedürfniß nach wendischer Lektüre bisher fast gar nicht
Rechnung getragen.

Seit dem Bestehen der Macica sind 35 dergleichen Schriften, in einer
Auflage von 500 Exemplaren von derselben herausgegeben und vertrieben
worden, einige sogar in zweiter Auflage erschienen. Außer den Volksschrif-
ten, zu denen auch ein wendischer Kalender in einer Auflage von gegen
4000 Exemplaren gehört, giebt die Macica auch eine gelehrte Zeitschrift,
jährlich 2 Hefte, unter dem Titel "Casopis" heraus, welche historische, lin-
guistische, archäologische, naturwissenschaftliche etc. Aufsätze enthält; eben so
ferner ein Wörterbuch, dessen wendisch-deutscher Theil (63 Bogen) fast voll-
endet ist.

Sodann enthält die Gesellschaft jetzt besondere Sektionen, und zwar
eine Sektion für wendische Sprachforschung, eine archäologisch-historische
Sektion, eine naturwissenschaftliche und eine belletristische Sektion.

Was die wendische Literatur im engeren Sinne anlangt, so haben die
Wenden aus den früheren Jahrhunderten eine solche nicht aufzuweisen, ein
genügendes Zeichen, daß wir es hier mit dem Rest eines Volkes zu thun
haben, welches nur die Waffen und den Pflug führte, und heute die Bil-
dung seiner Enkel durchaus dem Deutschthum verdankt. Außer Bibel, Ge-
sangbuch, Katechismus, frommen Hauspostillen und einer Anzahl Erbau-
ungsschriften gab es bis auf die neuere Zeit keine wendischen Bücher. Auch
hier hat die Macica neben Buchhändlern und einzelnen Privatpersonen sich
das Verdienst erworben, nach allen Richtungen hin eine junge Literatur
ins Leben zu rufen, sowohl im Gebiet der Prosa als Poesie. Das Meiste
ist natürlich Uebersetzung. Unter den neueren Erscheinungen sind Gedichte
und Liedersammlungen, Geschichtsbücher, Grammatiken, Chrestomathien und

leugnen ihre Sprache und ſind froh, wenn ſie es ſprachlich dahin gebracht
haben, daß man ihnen die wendiſche Abkunft nicht mehr anmerkt.

In der Ober-Lauſitz leben nach Angabe eines wendiſchen Gelehrten
ungefähr noch 101,000 Wenden; von dieſer Zahl kommen etwa 56,100
Köpfe auf Sachſen, 45,000 auf Preußen. In der Nieder-Lauſitz giebt es
ungefähr noch 50,000 Köpfe. In Sachſen geht die Wendei von Löbau
nordwärts über Bautzen bis Kamenz. Bis in die neuere Zeit waren die
Schulen faſt nur Anſtalten zur Erlernung der deutſchen Sprache und die
Pflege der übrigen Elementargegenſtände mag darunter wohl vielfach ge-
litten haben. Es hat deshalb die Regierung angeordnet, daß der Religions-
Unterricht wendiſch ertheilt werde, Leſen und Schreiben aber ſowohl wen-
diſch wie deutſch zu treiben iſt.

Unter den gebildeten Wenden regte ſich zuerſt mit der allgemeinen
dem Jahre 1848 vorangehenden Gährung die Liebe zur nationalen Sache
und Sprache, und ſo entſtand ſchon im Jahre 1846 die „Macica Serbska“,
ein Verein nach Art des Zwickauer Volksſchriftenvereins mit dem Zweck,
weitere Kreiſe mit lehrreicher Unterhaltungslektüre zu verſorgen. Der Buch-
handel hatte dem Bedürfniß nach wendiſcher Lektüre bisher faſt gar nicht
Rechnung getragen.

Seit dem Beſtehen der Macica ſind 35 dergleichen Schriften, in einer
Auflage von 500 Exemplaren von derſelben herausgegeben und vertrieben
worden, einige ſogar in zweiter Auflage erſchienen. Außer den Volksſchrif-
ten, zu denen auch ein wendiſcher Kalender in einer Auflage von gegen
4000 Exemplaren gehört, giebt die Macica auch eine gelehrte Zeitſchrift,
jährlich 2 Hefte, unter dem Titel „Caſopis“ heraus, welche hiſtoriſche, lin-
guiſtiſche, archäologiſche, naturwiſſenſchaftliche ꝛc. Aufſätze enthält; eben ſo
ferner ein Wörterbuch, deſſen wendiſch-deutſcher Theil (63 Bogen) faſt voll-
endet iſt.

Sodann enthält die Geſellſchaft jetzt beſondere Sektionen, und zwar
eine Sektion für wendiſche Sprachforſchung, eine archäologiſch-hiſtoriſche
Sektion, eine naturwiſſenſchaftliche und eine belletriſtiſche Sektion.

Was die wendiſche Literatur im engeren Sinne anlangt, ſo haben die
Wenden aus den früheren Jahrhunderten eine ſolche nicht aufzuweiſen, ein
genügendes Zeichen, daß wir es hier mit dem Reſt eines Volkes zu thun
haben, welches nur die Waffen und den Pflug führte, und heute die Bil-
dung ſeiner Enkel durchaus dem Deutſchthum verdankt. Außer Bibel, Ge-
ſangbuch, Katechismus, frommen Hauspoſtillen und einer Anzahl Erbau-
ungsſchriften gab es bis auf die neuere Zeit keine wendiſchen Bücher. Auch
hier hat die Macica neben Buchhändlern und einzelnen Privatperſonen ſich
das Verdienſt erworben, nach allen Richtungen hin eine junge Literatur
ins Leben zu rufen, ſowohl im Gebiet der Proſa als Poeſie. Das Meiſte
iſt natürlich Ueberſetzung. Unter den neueren Erſcheinungen ſind Gedichte
und Liederſammlungen, Geſchichtsbücher, Grammatiken, Chreſtomathien und

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[528/0540] leugnen ihre Sprache und ſind froh, wenn ſie es ſprachlich dahin gebracht haben, daß man ihnen die wendiſche Abkunft nicht mehr anmerkt. In der Ober-Lauſitz leben nach Angabe eines wendiſchen Gelehrten ungefähr noch 101,000 Wenden; von dieſer Zahl kommen etwa 56,100 Köpfe auf Sachſen, 45,000 auf Preußen. In der Nieder-Lauſitz giebt es ungefähr noch 50,000 Köpfe. In Sachſen geht die Wendei von Löbau nordwärts über Bautzen bis Kamenz. Bis in die neuere Zeit waren die Schulen faſt nur Anſtalten zur Erlernung der deutſchen Sprache und die Pflege der übrigen Elementargegenſtände mag darunter wohl vielfach ge- litten haben. Es hat deshalb die Regierung angeordnet, daß der Religions- Unterricht wendiſch ertheilt werde, Leſen und Schreiben aber ſowohl wen- diſch wie deutſch zu treiben iſt. Unter den gebildeten Wenden regte ſich zuerſt mit der allgemeinen dem Jahre 1848 vorangehenden Gährung die Liebe zur nationalen Sache und Sprache, und ſo entſtand ſchon im Jahre 1846 die „Macica Serbska“, ein Verein nach Art des Zwickauer Volksſchriftenvereins mit dem Zweck, weitere Kreiſe mit lehrreicher Unterhaltungslektüre zu verſorgen. Der Buch- handel hatte dem Bedürfniß nach wendiſcher Lektüre bisher faſt gar nicht Rechnung getragen. Seit dem Beſtehen der Macica ſind 35 dergleichen Schriften, in einer Auflage von 500 Exemplaren von derſelben herausgegeben und vertrieben worden, einige ſogar in zweiter Auflage erſchienen. Außer den Volksſchrif- ten, zu denen auch ein wendiſcher Kalender in einer Auflage von gegen 4000 Exemplaren gehört, giebt die Macica auch eine gelehrte Zeitſchrift, jährlich 2 Hefte, unter dem Titel „Caſopis“ heraus, welche hiſtoriſche, lin- guiſtiſche, archäologiſche, naturwiſſenſchaftliche ꝛc. Aufſätze enthält; eben ſo ferner ein Wörterbuch, deſſen wendiſch-deutſcher Theil (63 Bogen) faſt voll- endet iſt. Sodann enthält die Geſellſchaft jetzt beſondere Sektionen, und zwar eine Sektion für wendiſche Sprachforſchung, eine archäologiſch-hiſtoriſche Sektion, eine naturwiſſenſchaftliche und eine belletriſtiſche Sektion. Was die wendiſche Literatur im engeren Sinne anlangt, ſo haben die Wenden aus den früheren Jahrhunderten eine ſolche nicht aufzuweiſen, ein genügendes Zeichen, daß wir es hier mit dem Reſt eines Volkes zu thun haben, welches nur die Waffen und den Pflug führte, und heute die Bil- dung ſeiner Enkel durchaus dem Deutſchthum verdankt. Außer Bibel, Ge- ſangbuch, Katechismus, frommen Hauspoſtillen und einer Anzahl Erbau- ungsſchriften gab es bis auf die neuere Zeit keine wendiſchen Bücher. Auch hier hat die Macica neben Buchhändlern und einzelnen Privatperſonen ſich das Verdienſt erworben, nach allen Richtungen hin eine junge Literatur ins Leben zu rufen, ſowohl im Gebiet der Proſa als Poeſie. Das Meiſte iſt natürlich Ueberſetzung. Unter den neueren Erſcheinungen ſind Gedichte und Liederſammlungen, Geſchichtsbücher, Grammatiken, Chreſtomathien und

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/540>, abgerufen am 25.04.2024.