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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873.

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das Ohr an die Erde legt, der hört tief unten die Mönche sin-
gen. Dabei wird es kalt und kälter; das Abendroth streift die
Kirchenfenster, und mitunter ist es, als stünde eine weiße Gestalt
inmitten der rothen Scheiben. Das ist das weiße Fräulein, das
umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch sucht, den sie
liebte. Um Mitternacht tritt sie aus der Mauerwand, rasch,
als habe sie ihn gesehn, und breitet die Arme nach ihm aus;
-- dann setzt sie sich in den Pfeilerschatten und weint.

Da ist kein Alt-Lehniner, d. h. keiner, dessen Vorfahren
noch unter dem Kloster gelebt, der das weiße Fräulein nicht
gesehn hätte; nur die reformirten Schweizer und alle die, die
nach ihnen kamen, sehen nichts und starren in's Leere. Die
Alt-Lehninschen aber sind stolz auf diese ihre Gabe des Gesichts,
und sie haben ein Sprüchwort, das diesem Stolz einen Ausdruck
giebt. Wenn sie einen Fremden bezeichnen wollen, oder einen
später Zugezogenen, der nichts gemein hat mit Alt-Lehnin, so
sagen sie nicht: "er ist ein Fremder oder ein Neuer," sie sagen
nur: "er kann das weiße Fräulein nicht sehn."


das Ohr an die Erde legt, der hört tief unten die Mönche ſin-
gen. Dabei wird es kalt und kälter; das Abendroth ſtreift die
Kirchenfenſter, und mitunter iſt es, als ſtünde eine weiße Geſtalt
inmitten der rothen Scheiben. Das iſt das weiße Fräulein, das
umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch ſucht, den ſie
liebte. Um Mitternacht tritt ſie aus der Mauerwand, raſch,
als habe ſie ihn geſehn, und breitet die Arme nach ihm aus;
— dann ſetzt ſie ſich in den Pfeilerſchatten und weint.

Da iſt kein Alt-Lehniner, d. h. keiner, deſſen Vorfahren
noch unter dem Kloſter gelebt, der das weiße Fräulein nicht
geſehn hätte; nur die reformirten Schweizer und alle die, die
nach ihnen kamen, ſehen nichts und ſtarren in’s Leere. Die
Alt-Lehninſchen aber ſind ſtolz auf dieſe ihre Gabe des Geſichts,
und ſie haben ein Sprüchwort, das dieſem Stolz einen Ausdruck
giebt. Wenn ſie einen Fremden bezeichnen wollen, oder einen
ſpäter Zugezogenen, der nichts gemein hat mit Alt-Lehnin, ſo
ſagen ſie nicht: „er iſt ein Fremder oder ein Neuer,“ ſie ſagen
nur: „er kann das weiße Fräulein nicht ſehn.“


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[109/0127] das Ohr an die Erde legt, der hört tief unten die Mönche ſin- gen. Dabei wird es kalt und kälter; das Abendroth ſtreift die Kirchenfenſter, und mitunter iſt es, als ſtünde eine weiße Geſtalt inmitten der rothen Scheiben. Das iſt das weiße Fräulein, das umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch ſucht, den ſie liebte. Um Mitternacht tritt ſie aus der Mauerwand, raſch, als habe ſie ihn geſehn, und breitet die Arme nach ihm aus; — dann ſetzt ſie ſich in den Pfeilerſchatten und weint. Da iſt kein Alt-Lehniner, d. h. keiner, deſſen Vorfahren noch unter dem Kloſter gelebt, der das weiße Fräulein nicht geſehn hätte; nur die reformirten Schweizer und alle die, die nach ihnen kamen, ſehen nichts und ſtarren in’s Leere. Die Alt-Lehninſchen aber ſind ſtolz auf dieſe ihre Gabe des Geſichts, und ſie haben ein Sprüchwort, das dieſem Stolz einen Ausdruck giebt. Wenn ſie einen Fremden bezeichnen wollen, oder einen ſpäter Zugezogenen, der nichts gemein hat mit Alt-Lehnin, ſo ſagen ſie nicht: „er iſt ein Fremder oder ein Neuer,“ ſie ſagen nur: „er kann das weiße Fräulein nicht ſehn.“

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/127>, abgerufen am 25.04.2024.