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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873.

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Die Zeiten liegen noch nicht weit zurück, wo die "Weiße,"
oder um ihr Symbol zu nennen die "Stange", unsere gesell-
schaftlichen Zustände wie ein Dynastengeschlecht beherrschte. Es
war eine weit verzweigte Sippe, die, in den verschiedenen Stadt-
theilen, besserer Unterscheidung halber, unter verschiedenen Namen
sich geltend machte: die Weiße von Volpi, die Weiße von Clau-
sing, oder (vielleicht die stolzeste Abzweigung) einfach das Bier
von Bier. Ihre Beziehungen untereinander ließen zu Zeiten
viel zu wünschen übrig, aber alle hatten sie denselben Familien-
stolz und nach außen hin waren sie einig. Sie waren das
herrschende Geschlecht.

So gingen die Dinge seit unvordenklichen Zeiten; das alte
Europa brach zusammen, Throne schwankten, die "Weiße" blieb.
Sie blieb während der Franzosenzeit, sie blieb während der
Befreiungsjahre, sie schien fester als irgend eine etablirte Macht.
Aber schon lauerte das Verderben.

In jenen stillen Jahren, die der großen Aufregung folgten,
wo man's gehen ließ, wo die Wachsamkeit lullte, da geschah's.
Eines Tages, wie aus dem Boden aufgestiegen, waren zwei,
Concurrenzmächte da: die Grünthaler und die Josty'sche.

Jetzt wo sich ein freierer Ueberblick über ein halbes Jahr-
hundert ermöglicht, ist die Gelegenheit gegeben auch ihnen gerecht
zu werden. Es ist jetzt die Möglichkeit da, die Dinge aus dem
Zusammenhange zu erklären, das Zurückliegende aus dem Gegen-
wärtigen zu verstehn. Beide Neu-Getränke hatten einen aus-
gesprochenen Heroldscharakter, sie waren Vorläufer, sie kündigten
an. Man kann sagen: Berlin war für die Baiersche noch nicht
reif, aber das Seidel wurde bereits geahnt. Das Grünthaler,
die Jostysche, sie waren eine Culmbacher von der milderen
Observanz; die Jostysche (in ihrem Hange nach Milde) bis zum
Coriander niedersteigend. Beide waren, was sie sein konnten.
Darin lag ihr Verdienst, aber doch auch ihre Schwäche. Ihr
Wesen war und blieb -- die Halbheit. Und die Halbheit hat
noch nie die Welt erobert, am wenigsten Berlin.

Die Zeiten liegen noch nicht weit zurück, wo die „Weiße,“
oder um ihr Symbol zu nennen die „Stange“, unſere geſell-
ſchaftlichen Zuſtände wie ein Dynaſtengeſchlecht beherrſchte. Es
war eine weit verzweigte Sippe, die, in den verſchiedenen Stadt-
theilen, beſſerer Unterſcheidung halber, unter verſchiedenen Namen
ſich geltend machte: die Weiße von Volpi, die Weiße von Clau-
ſing, oder (vielleicht die ſtolzeſte Abzweigung) einfach das Bier
von Bier. Ihre Beziehungen untereinander ließen zu Zeiten
viel zu wünſchen übrig, aber alle hatten ſie denſelben Familien-
ſtolz und nach außen hin waren ſie einig. Sie waren das
herrſchende Geſchlecht.

So gingen die Dinge ſeit unvordenklichen Zeiten; das alte
Europa brach zuſammen, Throne ſchwankten, die „Weiße“ blieb.
Sie blieb während der Franzoſenzeit, ſie blieb während der
Befreiungsjahre, ſie ſchien feſter als irgend eine etablirte Macht.
Aber ſchon lauerte das Verderben.

In jenen ſtillen Jahren, die der großen Aufregung folgten,
wo man’s gehen ließ, wo die Wachſamkeit lullte, da geſchah’s.
Eines Tages, wie aus dem Boden aufgeſtiegen, waren zwei,
Concurrenzmächte da: die Grünthaler und die Joſty’ſche.

Jetzt wo ſich ein freierer Ueberblick über ein halbes Jahr-
hundert ermöglicht, iſt die Gelegenheit gegeben auch ihnen gerecht
zu werden. Es iſt jetzt die Möglichkeit da, die Dinge aus dem
Zuſammenhange zu erklären, das Zurückliegende aus dem Gegen-
wärtigen zu verſtehn. Beide Neu-Getränke hatten einen aus-
geſprochenen Heroldscharakter, ſie waren Vorläufer, ſie kündigten
an. Man kann ſagen: Berlin war für die Baierſche noch nicht
reif, aber das Seidel wurde bereits geahnt. Das Grünthaler,
die Joſtyſche, ſie waren eine Culmbacher von der milderen
Obſervanz; die Joſtyſche (in ihrem Hange nach Milde) bis zum
Coriander niederſteigend. Beide waren, was ſie ſein konnten.
Darin lag ihr Verdienſt, aber doch auch ihre Schwäche. Ihr
Weſen war und blieb — die Halbheit. Und die Halbheit hat
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[232/0250] Die Zeiten liegen noch nicht weit zurück, wo die „Weiße,“ oder um ihr Symbol zu nennen die „Stange“, unſere geſell- ſchaftlichen Zuſtände wie ein Dynaſtengeſchlecht beherrſchte. Es war eine weit verzweigte Sippe, die, in den verſchiedenen Stadt- theilen, beſſerer Unterſcheidung halber, unter verſchiedenen Namen ſich geltend machte: die Weiße von Volpi, die Weiße von Clau- ſing, oder (vielleicht die ſtolzeſte Abzweigung) einfach das Bier von Bier. Ihre Beziehungen untereinander ließen zu Zeiten viel zu wünſchen übrig, aber alle hatten ſie denſelben Familien- ſtolz und nach außen hin waren ſie einig. Sie waren das herrſchende Geſchlecht. So gingen die Dinge ſeit unvordenklichen Zeiten; das alte Europa brach zuſammen, Throne ſchwankten, die „Weiße“ blieb. Sie blieb während der Franzoſenzeit, ſie blieb während der Befreiungsjahre, ſie ſchien feſter als irgend eine etablirte Macht. Aber ſchon lauerte das Verderben. In jenen ſtillen Jahren, die der großen Aufregung folgten, wo man’s gehen ließ, wo die Wachſamkeit lullte, da geſchah’s. Eines Tages, wie aus dem Boden aufgeſtiegen, waren zwei, Concurrenzmächte da: die Grünthaler und die Joſty’ſche. Jetzt wo ſich ein freierer Ueberblick über ein halbes Jahr- hundert ermöglicht, iſt die Gelegenheit gegeben auch ihnen gerecht zu werden. Es iſt jetzt die Möglichkeit da, die Dinge aus dem Zuſammenhange zu erklären, das Zurückliegende aus dem Gegen- wärtigen zu verſtehn. Beide Neu-Getränke hatten einen aus- geſprochenen Heroldscharakter, ſie waren Vorläufer, ſie kündigten an. Man kann ſagen: Berlin war für die Baierſche noch nicht reif, aber das Seidel wurde bereits geahnt. Das Grünthaler, die Joſtyſche, ſie waren eine Culmbacher von der milderen Obſervanz; die Joſtyſche (in ihrem Hange nach Milde) bis zum Coriander niederſteigend. Beide waren, was ſie ſein konnten. Darin lag ihr Verdienſt, aber doch auch ihre Schwäche. Ihr Weſen war und blieb — die Halbheit. Und die Halbheit hat noch nie die Welt erobert, am wenigſten Berlin.

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/250>, abgerufen am 19.04.2024.