Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen.

Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat.

An solchen Klippen scheiterte Bach nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber.

Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen.

Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat.

An solchen Klippen scheiterte Bach nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0076" n="66"/>
Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen.</p>
        <p>Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat.</p>
        <p>An solchen Klippen scheiterte <hi rendition="#g">Bach</hi> nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0076] Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen. Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat. An solchen Klippen scheiterte Bach nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-04T13:34:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-04T13:34:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-04T13:34:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/76
Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/76>, abgerufen am 18.04.2024.