Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Dorothee Müllerin," und der "treugesinnten Eber¬
hardine von Reckenburg" war ein glückwünschender
Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬
schnitten, gewechselt worden. Jetzt fand ich meine
kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenstüb¬
chen und bräutlichen Wittwenstande unverändert wie¬
der. Man merkte kaum, daß sie in dem Halbjahre
vollkommen zur Jungfrau erblüht war, so rund und
kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie
putzte sich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte
Blumen und Vögel, stickte Flitterschuhe und Teller¬
mützendeckel, mit deren Erlös sie das Budget für ihr
Tändelwerk erhöhte; sie backte wohlschmeckende Krin¬
gel und Bretzelchen, welche in der Weinstube ihres
Vaters guten Absatz fanden, und hatte sich zur Aus¬
füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬
türe geworfen. Mit glühenden Wangen sah ich sie
die verwegenen Ritter- und süßlichen Liebesgeschichten
der Leihbibliothek verschlingen, hörte auch, daß sie sich
im Laufe des Winters fleißig der Musik gewidmet
habe. Der zärtliche Christlieb Taube kam allsonn¬
täglich zu einer Stunde im Guitarrenspiel von seinem
unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich
nicht, daß diese Stunde ihm die angenehmste der

Dorothee Müllerin,“ und der „treugeſinnten Eber¬
hardine von Reckenburg“ war ein glückwünſchender
Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬
ſchnitten, gewechſelt worden. Jetzt fand ich meine
kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenſtüb¬
chen und bräutlichen Wittwenſtande unverändert wie¬
der. Man merkte kaum, daß ſie in dem Halbjahre
vollkommen zur Jungfrau erblüht war, ſo rund und
kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie
putzte ſich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte
Blumen und Vögel, ſtickte Flitterſchuhe und Teller¬
mützendeckel, mit deren Erlös ſie das Budget für ihr
Tändelwerk erhöhte; ſie backte wohlſchmeckende Krin¬
gel und Bretzelchen, welche in der Weinſtube ihres
Vaters guten Abſatz fanden, und hatte ſich zur Aus¬
füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬
türe geworfen. Mit glühenden Wangen ſah ich ſie
die verwegenen Ritter- und ſüßlichen Liebesgeſchichten
der Leihbibliothek verſchlingen, hörte auch, daß ſie ſich
im Laufe des Winters fleißig der Muſik gewidmet
habe. Der zärtliche Chriſtlieb Taube kam allſonn¬
täglich zu einer Stunde im Guitarrenſpiel von ſeinem
unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich
nicht, daß dieſe Stunde ihm die angenehmſte der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0214" n="207"/>
Dorothee Müllerin,&#x201C; und der &#x201E;treuge&#x017F;innten Eber¬<lb/>
hardine von Reckenburg&#x201C; war ein glückwün&#x017F;chender<lb/>
Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬<lb/>
&#x017F;chnitten, gewech&#x017F;elt worden. Jetzt fand ich meine<lb/>
kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchen&#x017F;tüb¬<lb/>
chen und bräutlichen Wittwen&#x017F;tande unverändert wie¬<lb/>
der. Man merkte kaum, daß &#x017F;ie in dem Halbjahre<lb/>
vollkommen zur Jungfrau erblüht war, &#x017F;o rund und<lb/>
kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie<lb/>
putzte &#x017F;ich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte<lb/>
Blumen und Vögel, &#x017F;tickte Flitter&#x017F;chuhe und Teller¬<lb/>
mützendeckel, mit deren Erlös &#x017F;ie das Budget für ihr<lb/>
Tändelwerk erhöhte; &#x017F;ie backte wohl&#x017F;chmeckende Krin¬<lb/>
gel und Bretzelchen, welche in der Wein&#x017F;tube ihres<lb/>
Vaters guten Ab&#x017F;atz fanden, und hatte &#x017F;ich zur Aus¬<lb/>
füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬<lb/>
türe geworfen. Mit glühenden Wangen &#x017F;ah ich &#x017F;ie<lb/>
die verwegenen Ritter- und &#x017F;üßlichen Liebesge&#x017F;chichten<lb/>
der Leihbibliothek ver&#x017F;chlingen, hörte auch, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
im Laufe des Winters fleißig der Mu&#x017F;ik gewidmet<lb/>
habe. Der zärtliche Chri&#x017F;tlieb Taube kam all&#x017F;onn¬<lb/>
täglich zu einer Stunde im Guitarren&#x017F;piel von &#x017F;einem<lb/>
unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich<lb/>
nicht, daß die&#x017F;e Stunde ihm die angenehm&#x017F;te der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0214] Dorothee Müllerin,“ und der „treugeſinnten Eber¬ hardine von Reckenburg“ war ein glückwünſchender Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬ ſchnitten, gewechſelt worden. Jetzt fand ich meine kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenſtüb¬ chen und bräutlichen Wittwenſtande unverändert wie¬ der. Man merkte kaum, daß ſie in dem Halbjahre vollkommen zur Jungfrau erblüht war, ſo rund und kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie putzte ſich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte Blumen und Vögel, ſtickte Flitterſchuhe und Teller¬ mützendeckel, mit deren Erlös ſie das Budget für ihr Tändelwerk erhöhte; ſie backte wohlſchmeckende Krin¬ gel und Bretzelchen, welche in der Weinſtube ihres Vaters guten Abſatz fanden, und hatte ſich zur Aus¬ füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬ türe geworfen. Mit glühenden Wangen ſah ich ſie die verwegenen Ritter- und ſüßlichen Liebesgeſchichten der Leihbibliothek verſchlingen, hörte auch, daß ſie ſich im Laufe des Winters fleißig der Muſik gewidmet habe. Der zärtliche Chriſtlieb Taube kam allſonn¬ täglich zu einer Stunde im Guitarrenſpiel von ſeinem unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich nicht, daß dieſe Stunde ihm die angenehmſte der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/214
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/214>, abgerufen am 29.03.2024.