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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Wie ich gestern früh erwacht bin, war der Druck von mir genommen, und seither bin ich wohl. - Und wie denken Sie über Ihre Aussichten im Hause? - Ich bin ganz klar, ich weiss, dass ich keine habe, und werde nicht unglücklich darüber sein. - Und werden Sie sich jetzt mit den Hausleuten vertragen? "" Ich glaube, da hat meine Empfindlichkeit das Meiste dazu gethan. - Und lieben Sie den Director noch? - Gewiss, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will.

Ich untersuchte jetzt ihre Nase und fand die Schmerz- und Reflexempfindlichkeit fast völlig wiedergekehrt; sie unterschied auch Gerüche, aber unsicher und nur wenn sie intensiver waren. Ich muss aber dahingestellt lassen, in wieweit an dieser Anosmie die Erkrankung der Nase betheiligt war.

Die ganze Behandlung hatte sich über 9 Wochen erstreckt. 4 Monate später traf ich die Patientin zufällig in einer unserer Sommerfrischen. Sie war heiter und bestätigte die Fortdauer ihres Wohlbefindens.

Epikrise.

Ich möchte den hier erzählten Krankheitsfall nicht gering schätzen, wenngleich er einer kleinen und leichten Hysterie entspricht und nur über wenige Symptome verfügt. Vielmehr erscheint es mir lehrreich, dass auch eine solche, als Neurose armselige Erkrankung so vieler psychischer Voraussetzungen bedarf, und bei eingehenderer Würdigung dieser Krankengeschichte bin ich versucht, sie als vorbildlich für einen Typus der Hysterie hinzustellen, nämlich für die Form von Hysterie, die auch eine nicht hereditär belastete Person durch dazu geeignete Erlebnisse erwerben kann. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von einer Hysterie, die unabhängig von jeder Disposition wäre: eine solche gibt es wahrscheinlich nicht, aber von solcher Art von Disposition sprechen wir erst, wenn die Person hysterisch geworden ist; sie ist vorher durch nichts bezeugt gewesen. Neuropathische Disposition, wie man sie gewöhnlich versteht, ist etwas anderes; sie ist bereits vor der Erkrankung durch das Maass hereditärer Belastung oder die Summe individueller psychischer Abnormitäten bestimmt. Von diesen beiden Momenten war bei Miss Lucy R., soweit ich unterrichtet bin, nichts nachzuweisen. Ihre Hysterie darf also eine acquirirte genannt werden und setzt nichts weiter voraus als die wahrscheinlich sehr verbreitete Eignung - Hysterie zu acquiriren, deren Charakteristik wir noch kaum auf der Spur sind.

Wie ich gestern früh erwacht bin, war der Druck von mir genommen, und seither bin ich wohl. – Und wie denken Sie über Ihre Aussichten im Hause? – Ich bin ganz klar, ich weiss, dass ich keine habe, und werde nicht unglücklich darüber sein. – Und werden Sie sich jetzt mit den Hausleuten vertragen? „“ Ich glaube, da hat meine Empfindlichkeit das Meiste dazu gethan. – Und lieben Sie den Director noch? – Gewiss, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will.

Ich untersuchte jetzt ihre Nase und fand die Schmerz- und Reflexempfindlichkeit fast völlig wiedergekehrt; sie unterschied auch Gerüche, aber unsicher und nur wenn sie intensiver waren. Ich muss aber dahingestellt lassen, in wieweit an dieser Anosmie die Erkrankung der Nase betheiligt war.

Die ganze Behandlung hatte sich über 9 Wochen erstreckt. 4 Monate später traf ich die Patientin zufällig in einer unserer Sommerfrischen. Sie war heiter und bestätigte die Fortdauer ihres Wohlbefindens.

Epikrise.

Ich möchte den hier erzählten Krankheitsfall nicht gering schätzen, wenngleich er einer kleinen und leichten Hysterie entspricht und nur über wenige Symptome verfügt. Vielmehr erscheint es mir lehrreich, dass auch eine solche, als Neurose armselige Erkrankung so vieler psychischer Voraussetzungen bedarf, und bei eingehenderer Würdigung dieser Krankengeschichte bin ich versucht, sie als vorbildlich für einen Typus der Hysterie hinzustellen, nämlich für die Form von Hysterie, die auch eine nicht hereditär belastete Person durch dazu geeignete Erlebnisse erwerben kann. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von einer Hysterie, die unabhängig von jeder Disposition wäre: eine solche gibt es wahrscheinlich nicht, aber von solcher Art von Disposition sprechen wir erst, wenn die Person hysterisch geworden ist; sie ist vorher durch nichts bezeugt gewesen. Neuropathische Disposition, wie man sie gewöhnlich versteht, ist etwas anderes; sie ist bereits vor der Erkrankung durch das Maass hereditärer Belastung oder die Summe individueller psychischer Abnormitäten bestimmt. Von diesen beiden Momenten war bei Miss Lucy R., soweit ich unterrichtet bin, nichts nachzuweisen. Ihre Hysterie darf also eine acquirirte genannt werden und setzt nichts weiter voraus als die wahrscheinlich sehr verbreitete Eignung – Hysterie zu acquiriren, deren Charakteristik wir noch kaum auf der Spur sind.

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[104/0110] Wie ich gestern früh erwacht bin, war der Druck von mir genommen, und seither bin ich wohl. – Und wie denken Sie über Ihre Aussichten im Hause? – Ich bin ganz klar, ich weiss, dass ich keine habe, und werde nicht unglücklich darüber sein. – Und werden Sie sich jetzt mit den Hausleuten vertragen? „“ Ich glaube, da hat meine Empfindlichkeit das Meiste dazu gethan. – Und lieben Sie den Director noch? – Gewiss, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will. Ich untersuchte jetzt ihre Nase und fand die Schmerz- und Reflexempfindlichkeit fast völlig wiedergekehrt; sie unterschied auch Gerüche, aber unsicher und nur wenn sie intensiver waren. Ich muss aber dahingestellt lassen, in wieweit an dieser Anosmie die Erkrankung der Nase betheiligt war. Die ganze Behandlung hatte sich über 9 Wochen erstreckt. 4 Monate später traf ich die Patientin zufällig in einer unserer Sommerfrischen. Sie war heiter und bestätigte die Fortdauer ihres Wohlbefindens. Epikrise. Ich möchte den hier erzählten Krankheitsfall nicht gering schätzen, wenngleich er einer kleinen und leichten Hysterie entspricht und nur über wenige Symptome verfügt. Vielmehr erscheint es mir lehrreich, dass auch eine solche, als Neurose armselige Erkrankung so vieler psychischer Voraussetzungen bedarf, und bei eingehenderer Würdigung dieser Krankengeschichte bin ich versucht, sie als vorbildlich für einen Typus der Hysterie hinzustellen, nämlich für die Form von Hysterie, die auch eine nicht hereditär belastete Person durch dazu geeignete Erlebnisse erwerben kann. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von einer Hysterie, die unabhängig von jeder Disposition wäre: eine solche gibt es wahrscheinlich nicht, aber von solcher Art von Disposition sprechen wir erst, wenn die Person hysterisch geworden ist; sie ist vorher durch nichts bezeugt gewesen. Neuropathische Disposition, wie man sie gewöhnlich versteht, ist etwas anderes; sie ist bereits vor der Erkrankung durch das Maass hereditärer Belastung oder die Summe individueller psychischer Abnormitäten bestimmt. Von diesen beiden Momenten war bei Miss Lucy R., soweit ich unterrichtet bin, nichts nachzuweisen. Ihre Hysterie darf also eine acquirirte genannt werden und setzt nichts weiter voraus als die wahrscheinlich sehr verbreitete Eignung – Hysterie zu acquiriren, deren Charakteristik wir noch kaum auf der Spur sind.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/110>, abgerufen am 25.04.2024.