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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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losgegangen sind, da hat der Onkel eine unsinnige Wuth auf mich bekommen; er hat immer gesagt, ich bin Schuld an allem; hätt' ich nicht geplauscht, so wär's nie zur Scheidung gekommen; er hat mir immer gedroht, er thut mir was an; wenn er mich von Weitem gesehen hat, hat sich sein Gesicht vor Wuth verzogen, und er ist mit der gehobenen Hand auf mich losgegangen. Ich bin immer vor ihm davongelaufen und hab' immer die grösste Angst gehabt, er packt mich irgendwo unversehens. Das Gesicht, was ich jetzt immer sehe, ist sein Gesicht, wie er in der Wuth war."

Diese Auskunft erinnert mich daran, dass ja das erste Symptom der Hysterie, das Erbrechen, vergangen ist; der Angstanfall ist geblieben und hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Demnach handelt es sich um eine zum guten Theile abreagirte Hysterie. Sie hat ja auch wirklich ihre Entdeckung bald hernach der Tante mitgetheilt.

"Haben Sie der Tante auch die anderen Geschichten erzählt, wie er Ihnen nachgestellt hat?"

"Ja, nicht gleich, aber später, wie schon von der Scheidung die Rede war. Da hat die Tant' gesagt: Das heben wir uns auf; wenn er Schwierigkeiten vor Gericht macht, dann sagen wir auch das."

Ich kann verstehen, dass gerade aus der letzten Zeit, als die aufregenden Scenen im Hause sich häuften, als ihr Zustand aufhörte, das Interesse der Tante zu erwecken, die von dem Zwist vollauf in Anspruch genommen war, dass aus dieser Zeit der Häufung und Retention das Erinnerungssymbol verblieben ist.

Ich hoffe, die Ausprache mit mir hat dem in seinem sexuellen Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgethan; ich habe sie nicht wiedergesehen.

Epikrise.

Ich kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand in dieser Krankengeschichte weniger einen analysirten als einen durch Errathen aufgelösten Fall von Hysterie erblicken will. Die Kranke gab zwar alles, was ich in ihren Bericht interpolirte, als wahrscheinlich zu; sie war aber doch nicht im Stande es als Erlebtes wiederzuerkennen. Ich meine, dazu hätte es der Hypnose bedurft. Wenn ich annehme, ich hätte richtig gerathen, und nun versuche, diesen Fall auf das Schema einer acquirirten Hysterie zu reduciren, wie es sich uns aus Fall III ergeben hat, so liegt es nahe, die zwei Reihen von erotischen Erlebnissen mit traumatischen Momenten, die Scene bei der Entdeckung

losgegangen sind, da hat der Onkel eine unsinnige Wuth auf mich bekommen; er hat immer gesagt, ich bin Schuld an allem; hätt’ ich nicht geplauscht, so wär’s nie zur Scheidung gekommen; er hat mir immer gedroht, er thut mir was an; wenn er mich von Weitem gesehen hat, hat sich sein Gesicht vor Wuth verzogen, und er ist mit der gehobenen Hand auf mich losgegangen. Ich bin immer vor ihm davongelaufen und hab’ immer die grösste Angst gehabt, er packt mich irgendwo unversehens. Das Gesicht, was ich jetzt immer sehe, ist sein Gesicht, wie er in der Wuth war.“

Diese Auskunft erinnert mich daran, dass ja das erste Symptom der Hysterie, das Erbrechen, vergangen ist; der Angstanfall ist geblieben und hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Demnach handelt es sich um eine zum guten Theile abreagirte Hysterie. Sie hat ja auch wirklich ihre Entdeckung bald hernach der Tante mitgetheilt.

„Haben Sie der Tante auch die anderen Geschichten erzählt, wie er Ihnen nachgestellt hat?“

„Ja, nicht gleich, aber später, wie schon von der Scheidung die Rede war. Da hat die Tant’ gesagt: Das heben wir uns auf; wenn er Schwierigkeiten vor Gericht macht, dann sagen wir auch das.“

Ich kann verstehen, dass gerade aus der letzten Zeit, als die aufregenden Scenen im Hause sich häuften, als ihr Zustand aufhörte, das Interesse der Tante zu erwecken, die von dem Zwist vollauf in Anspruch genommen war, dass aus dieser Zeit der Häufung und Retention das Erinnerungssymbol verblieben ist.

Ich hoffe, die Ausprache mit mir hat dem in seinem sexuellen Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgethan; ich habe sie nicht wiedergesehen.

Epikrise.

Ich kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand in dieser Krankengeschichte weniger einen analysirten als einen durch Errathen aufgelösten Fall von Hysterie erblicken will. Die Kranke gab zwar alles, was ich in ihren Bericht interpolirte, als wahrscheinlich zu; sie war aber doch nicht im Stande es als Erlebtes wiederzuerkennen. Ich meine, dazu hätte es der Hypnose bedurft. Wenn ich annehme, ich hätte richtig gerathen, und nun versuche, diesen Fall auf das Schema einer acquirirten Hysterie zu reduciren, wie es sich uns aus Fall III ergeben hat, so liegt es nahe, die zwei Reihen von erotischen Erlebnissen mit traumatischen Momenten, die Scene bei der Entdeckung

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[114/0120] losgegangen sind, da hat der Onkel eine unsinnige Wuth auf mich bekommen; er hat immer gesagt, ich bin Schuld an allem; hätt’ ich nicht geplauscht, so wär’s nie zur Scheidung gekommen; er hat mir immer gedroht, er thut mir was an; wenn er mich von Weitem gesehen hat, hat sich sein Gesicht vor Wuth verzogen, und er ist mit der gehobenen Hand auf mich losgegangen. Ich bin immer vor ihm davongelaufen und hab’ immer die grösste Angst gehabt, er packt mich irgendwo unversehens. Das Gesicht, was ich jetzt immer sehe, ist sein Gesicht, wie er in der Wuth war.“ Diese Auskunft erinnert mich daran, dass ja das erste Symptom der Hysterie, das Erbrechen, vergangen ist; der Angstanfall ist geblieben und hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Demnach handelt es sich um eine zum guten Theile abreagirte Hysterie. Sie hat ja auch wirklich ihre Entdeckung bald hernach der Tante mitgetheilt. „Haben Sie der Tante auch die anderen Geschichten erzählt, wie er Ihnen nachgestellt hat?“ „Ja, nicht gleich, aber später, wie schon von der Scheidung die Rede war. Da hat die Tant’ gesagt: Das heben wir uns auf; wenn er Schwierigkeiten vor Gericht macht, dann sagen wir auch das.“ Ich kann verstehen, dass gerade aus der letzten Zeit, als die aufregenden Scenen im Hause sich häuften, als ihr Zustand aufhörte, das Interesse der Tante zu erwecken, die von dem Zwist vollauf in Anspruch genommen war, dass aus dieser Zeit der Häufung und Retention das Erinnerungssymbol verblieben ist. Ich hoffe, die Ausprache mit mir hat dem in seinem sexuellen Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgethan; ich habe sie nicht wiedergesehen. Epikrise. Ich kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand in dieser Krankengeschichte weniger einen analysirten als einen durch Errathen aufgelösten Fall von Hysterie erblicken will. Die Kranke gab zwar alles, was ich in ihren Bericht interpolirte, als wahrscheinlich zu; sie war aber doch nicht im Stande es als Erlebtes wiederzuerkennen. Ich meine, dazu hätte es der Hypnose bedurft. Wenn ich annehme, ich hätte richtig gerathen, und nun versuche, diesen Fall auf das Schema einer acquirirten Hysterie zu reduciren, wie es sich uns aus Fall III ergeben hat, so liegt es nahe, die zwei Reihen von erotischen Erlebnissen mit traumatischen Momenten, die Scene bei der Entdeckung

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/120>, abgerufen am 19.04.2024.